Mayday
1
Wie ein Silberfisch vor dem blauschwarzen Horizont der Stratosphäre schwimmend, raste der Trans-United-Flug 52 auf Westkurs nach Japan.
Durch Lücken in der Wolkendecke sah Captain Alan Stuart unter sich glitzernde Wasserflächen des sonnenbeschienenen Pazifiks. Über ihm erstreckte sich die Stratosphäre – ein nahezu sauerstoffloses Nichts ohne Sonne oder Leben. Die durch die Überschallgeschwindigkeit der gigantischen Maschine fortwährend erzeugte Stoßwelle löste sich unsichtbar von den Tragflächen und sank ungehört als Schallteppich in den mittleren Pazifik hinab.
Captain Stuart überprüfte die Anzeigen seiner Instrumente. Die Maschine war vor zwei Stunden und 20 Minuten in San Francisco gestartet. Die Straton 797 flog mit einer Reisegeschwindigkeit von Mach 1,8 mit 1900 Stundenkilometern. Die doppelt vorhandenen Trägheitsnavigationssysteme zeigten übereinstimmend an, daß Flug 52 den Bereich der ersten Karte verlassen hatte. Das im Niederfrequenzbereich arbeitende Omega-Verfahren ergab die gleiche Position. Stuart faltete seine Navigationskarte des östlichen Pazifiks zusammen und steckte sie in die Kartentasche zurück. Während er die nächste herauszog, warf er erneut einen Blick auf die elektronische Positionsanzeige: 161° 14’ W, 43° 27’ N – 3350 Kilometer westlich von Kalifornien, 2400 Kilometer nördlich von Hawaii. »Die Position stimmt«, stellte er fest.
Erster Offizier Daniel McVary, der Kopilot, sah zu ihm hinüber. »Dann müßten wir in einer knappen Stunde in Chicago landen.«
Stuart rang sich ein Lächeln ab. »Du hast die falsche Karte, Dan.« Fliegerhumor war ihm zuwider. Er entfaltete die neue Karte für die Höhennavigation über dem mittleren Pazifik und studierte sie mit der Bedächtigkeit eines Mannes, der mehr Zeit als Aufgaben hat. Die Navigationskarte enthielt lediglich ein Gradnetz, denn Flug 52 hatte alle markanten Punkte, die Kartographen hätten einzeichnen können, längst hinter sich gelassen. Und aus ihren fast 20 Kilometern Flughöhe war auf diesem Teil der Strecke ohnehin kein Land zu sehen. Captain Stuart wandte sich an Ersten Offizier McVary. »Hast du die Meldungen für die Sektoren vier und fünf empfangen?«
»Ja. Sie sind auf dem neuesten Stand.« Er reckte sich gähnend. Stuart nickte. Er dachte an seine Heimatstadt San Francisco zurück. Gestern vormittag war er im Fernsehen in einer Talk-Show aufgetreten. Er war nervös gewesen und erinnerte sich jetzt an Einzelheiten des Gesprächs, als sehe er sie als Wiederholung auf dem Bildschirm.
Der Interviewer hatte sich wie üblich mehr für die Straton 797 als für ihn interessiert, aber daran hatte Stuart sich inzwischen gewöhnt. Er dachte an die Standarderklärungen, die er sich für solche Fälle zurechtgelegt hatte. Die Straton hatte kaum etwas mit der alten englisch-französischen Concorde gemeinsam. Sie erreichte die gleiche Flughöhe, aber sie flog etwas langsamer – und um so wirtschaftlicher. Auf der Grundlage aerodynamischer Erkenntnisse der siebziger Jahre hatten die Straton-Ingenieure ein langsameres, aber größeres Flugzeug entwickelt, das Luxus mit Wirtschaftlichkeit vereinte.
Die Straton 797 beförderte 40 Fluggäste in der Ersten Klasse und 285 in der Touristenklasse. Im Rahmen des Interviews hatte Stuart auch das Oberdeck mit dem Cockpit und dem Salon der Ersten Klasse erwähnt. Zur Einrichtung des Salons gehörten eine Bar und ein Klavier. Eines Tages würde er einemInterviewer aus reinem Übermut erklären, dort gebe es auch einen offenen Kamin und einen Swimmingpool.
Stuart hatte aus dem Werbematerial des Flugzeugherstellers zitiert, wenn ihm nichts anderes mehr eingefallen war. Die Straton 797 flog schneller als die Sonne. Etwas schneller als die Umdrehungsgeschwindigkeit der Erde.
Bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 1650 Stundenkilometern würde Flug 52 um 7.15 Uhr Ortszeit in Tokio landen, obwohl die Maschine in San Francisco um 8.00 Uhr gestartet war. Allerdings nicht heute. Sie waren mit 39 Minuten Verspätung abgeflogen, weil im Hydrauliksystem drei ein kleines Leck aufgetreten war. Während die Mechaniker das schadhafte Ventil ausgewechselt hatten, hatten Captain und Kopilot nochmals ihr vom Computer errechnetes Flugprofil durchgesehen. Auf Grund neuer Höhenwindvorhersagen hatte Stuart ihren Flugplan geändert: Sie würden sich südlich der normalen Großkreisroute halten, um dem stärksten Gegenwind auszuweichen.
Die voraussichtliche Flugzeit veränderte
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