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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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die grauweiße Zimmerdecke, die kratzige Bettdecke auf seiner Haut und den Schmerz in seiner Brust.
    Er hatte keine Ahnung, wie spät es war, hielt es seinem Gefühl nach jedoch für den späteren Nachmittag, als der Polizeibeamte erschien. Er war ein großer Mann oder wirkte zumindest so mit dem Cape und dem Zylinder der Peel’s Metropolitan Police. Sein Gesicht war knochig, die Nase lang, der Mund breit, die Stirn recht hoch, nur die tiefliegenden Augen waren zu klein, als daß man ihre Farbe ohne weiteres hätte identifizieren können. Trotz der schwachen Ärgerfalten zwischen den Augenbrauen und um die Mundwinkel ein durchaus freundliches und intelligentes Gesicht. Neben Monks Bett blieb er stehen.
    »Na, erkennen Sie mich heute?« erkundigte er sich fröhlich. Monk versagte sich ein Kopfschütteln; es tat zu weh.
    »Nein.«
    Der Mann zügelte seine Verdrossenheit und noch etwas anderes, bei dem es sich womöglich um Enttäuschung handelte. Er musterte Monk eingehend von oben bis unten, wobei er ein Auge nervös zusammenkniff, als wolle er seinem Sehvermögen auf diese Weise auf die Sprünge helfen.
    »Sie sehen heute viel besser aus«, verkündete er.
    Stimmte das? Sah er tatsächlich besser aus? Oder wollte Runcorn ihn lediglich aufheitern? Was das betraf – wie sah er eigentlich überhaupt aus? Er hatte nicht die leiseste Ahnung. War er dunkelhaarig oder blond, häßlich oder eher ansehnlich? Er konnte nicht einmal seine Hände sehen, geschweige denn den unter der Decke verborgenen Körper. Nein, er würde jetzt nicht nachschauen – er mußte warten, bis Runcorn wieder verschwunden war.
    »Sie erinnern sich an gar nichts, nehme ich an?« fuhr Runcorn fort. »Keine Ahnung, was Ihnen zugestoßen ist?«
    »Nein.« Monk schlug sich mit einer absolut formlosen Wolke der Vergessenheit herum. Kannte dieser Mann ihn persönlich oder nur vom Hörensagen? War er eine Figur des öffentlichen Lebens, die Monk ein Begriff sein sollte? Oder verfolgte er ihn in irgendeiner dienstlichen und geheimen Mission? War er lediglich auf Informationen aus, oder konnte er Monk etwas über seine Person erzählen, das über den bloßen Namen hinausging, der schlichten Tatsache seiner Existenz Form und Inhalt geben?
    Monk lag bis zum Kinn eingepackt auf dem Bett und fühlte sich doch innerlich nackt und verletzlich, wie es alle Entlarvten und dem Spott Preisgegebenen sind. Sein Instinkt riet ihm, eine Maske aufzusetzen, seine Schwäche zu kaschieren. Gleichzeitig wollte er so viel wie möglich über sich erfahren. Wahrscheinlich gab es Dutzende, vielleicht sogar Hunderte von Menschen auf der Welt, die ihn kannten, und er erinnerte sich an nichts! Damit war er auf der ganzen Linie und auf äußerst zermürbende Weise im Nachteil. Er wußte nicht einmal, wer ihn gemocht oder gehaßt hatte. Er befand sich in der Lage eines Verhungernden, der für etwas Eßbares sein Leben geben würde und doch entsetzliche Angst hat, in jedem Bissen könnte Gift stecken.
    Monk konzentrierte sich wieder auf den Polizisten. Runcorn hieß er, hatte der Pfleger gesagt. Er mußte einen Vorstoß wagen.
    »Hatte ich einen Unfall?« fragte er.
    »Sah ganz danach aus«, gab Runcorn nüchtern zurück. »Der Hansom, in dem sie saßen, hatte sich überschlagen – schöner Schlamassel! Sie müssen mit wahnwitzigem Tempo irgendwo gegen geknallt sein. Das Pferd war vor Schreck ganz aus dem Häuschen.« Er schüttelte den Kopf und zog die Mundwinkel nach unten. »Der Kutscher war auf der Stelle tot, der arme Teufel. Schlug mit dem Kopf auf die Bordsteinkante. Vermutlich sind Sie nur deshalb mit einem blauen Auge davongekommen, weil Sie in der Kabine gesessen haben. War eine Schweinearbeit, Sie mit Ihrem ganzen Gewicht da wieder rauszukriegen. Hätte nie gedacht, daß Sie so ein stabiler Bursche sind. Sie erinnern sich wohl nicht mehr daran? Auch nicht an die Angst?« Wieder verengte sich sein linkes Auge ein wenig.
    »Nein.« Kein einziges Bild tauchte in Monks Kopf auf, keine Erinnerung an eine rasante Fahrt, einen Zusammenstoß oder gar Schmerzen.
    »Keine Ahnung, was sie vorhatten?« bohrte Runcorn ohne echten Optimismus in der Stimme weiter. »Ob es mit einem Fall zusammenhing?«
    Ein strahlender Hoffnungsschimmer durchbrach die Finsternis, das erste greifbare Etwas. Er fürchtete sich fast zu fragen, da er sich bei genauerem Hinsehen womöglich in Luft auflösen könnte. Er starrte Runcorn an. Er mußte diesen Mann kennen, persönlich kennen, vielleicht war er ihm

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