Das Gesicht des Teufels
die Tiefe … nichts, niemand …
«Herrgott, wo ist sie dann?» Ulrich schaute ohnmächtig zum Himmel auf, dann fixierte er wieder Lienhart. Am liebsten hätte er die Antwort aus Maries Freund herausgeschüttelt, aber warum eigentlich sollte er an der Lauterkeit des Jungen zweifeln? Eingeschüchtert sah dieser zu Boden und rang um Fassung. «Also nochmal», fasste Ulrich Lienharts Bericht zusammen. Sein Ton war jetzt wieder freundlich, zuvor hatte er Lienhart und seine Eltern in rüdem Ton bezichtigt, sie hätten nicht auf Marie aufgepasst. «Sie hat sich gestern Abend am Rödertor von dir und Babur verabschiedet, weil sie am Grab ihres Vaters für Hanna beten wollte.»
«Ja. Sie hat gesagt: Wir sehen uns morgen, also heute. Aber sie kam nicht.»
«Und Babur auch nicht.»
«Eben, das ist es ja. Und das ist schon seltsam. Denn wenn Marie und Babur vom Wachsenberg in die Stadt kommen, also dann, wenn sie ins Kloster geht, dann kommt Babur immer zu mir. Aber heute habe ich ihn noch nicht gesehen.»
Ulrich seufzte auf, wuschelte Lienhart durchs Haar. Seine Eltern, die ihren Sprössling zwischen sich auf der Bank hatten, rangen sich ein Lächeln ab. Offenbar war der Herr Ritter ihnen wieder gut. Denn als er vorhin mit seinem Hengst hier vorgeprescht war, hatte er noch ausgesehen, als wolle er alles kurz und klein hauen.
Ein frühabendlich dunkelblauer Himmel beschirmte die Stadt, es roch nach Wein und Apfelmost, noch mehr aber nach gebratenem Fleisch und geröstetem Brot. Im Rosengassen-Viertel am Würzburger Tor standen, wie schon die Abende zuvor, Tische und Bänke vor dem Haus. Es wurde gegessen, getrunken, gewürfelt, gelacht – mit aller Macht wollte man die zurückliegenden grauenerregenden Wochen vergessen.
Ulrich hatte keinen Sinn für diese Idylle. Die Scham darüber, dass Hanna sich vor aller Augen gleichsam entblößt hatte, nagte noch an seinem Stolz, Agathe hatte ihm deswegen vor der Rückfahrt ins Kloster bittere Vorwürfe gemacht. «Unser Ruf ist geschändet! Himmel, was hat sie sich bloß dabei gedacht! Wie kannst du sie jetzt immer noch wollen. Ist es da ein Wunder, dass alle glauben, sie habe dich verhext?»
Agathes Worte waren wie Gift. Ständig kreisten sie ihm im Kopf, und wenn er sie einmal für einen Moment vergaß, schoben sich die anderen Bilder umso mächtiger vor sein inneres Auge: Wie der Vogt Hanna auffing und die Ohnmächtige in den Nebenraum trug, das Gesicht des Henkers, der die Male kurz darauf bestätigte, die triumphierende Miene Aufreiters und die Faustschläge Ritter von Seckendorffs auf den Richtertisch. Wegen des Tumults auf dem Flur hatte er die Anhörung auf den nächsten Tag verschoben, Hanna verbrachte die Nacht jetzt in der Arreststube des Rathauses.
«Ritter Ulrich?»
«Ja, Lienhart?»
«Darf ich, wenn Ihr Marie sucht, dabei sein?»
«Ich weiß ja gar nicht, wo ich beginnen soll.»
«Dann müssen wir auf Babur warten.»
Lienhart hatte sich wieder gefangen, er klang zuversichtlich. Seine Mutter küsste ihn auf die Wange, Lienhart verzog das Gesicht. Ulrich nickte nachdenklich. Ein schmerzliches Lächeln umspielte seinen Mund, für einen Augenblick hatte er an Hanna gedacht. Die kommende Nacht hatte er vorgehabt, sie aus dem Weibersturm zu befreien, jetzt hatte sie selbst seine Pläne vereitelt. Er war so wütend gewesen, dass er sich aufs Pferd geschwungen hatte und den ganzen Nachmittag ziellos in der Gegend umhergeritten war – nicht zuletzt in der Hoffnung, irgendwo Marie zu finden.
Und jetzt?
«Wenn Babur hier aufkreuzt, komme sofort mit ihm nach Detwang, hast du verstanden?»
«Verlasst Euch auf mich. Schließlich ist sie meine Marie.»
Als Ulrich in Detwang eintraf, zeigte sich bereits der erste Stern. Es war noch immer warm. Ein leichter Abendwind rauschte in den Bäumen, Fledermäuse jagten pfeilschnell über den Hof. Mit Genugtuung stellte er fest, dass der Kutschenwagen vor dem Haus den Dominikanerinnen gehörte. Ob sich Agathe bei ihm entschuldigen wollte?
«Ritter, Euer Haus ist voll!» Der Pferdeknecht eilte mit einer Laterne herbei, in der anderen Hand hielt er eine Flasche Wein.
«Was sind das jetzt für Sitten?», fragte Ulrich unwirsch. «Wer hat das erlaubt?»
«Der Hegemeister, Ritter.»
«Ach, und wer ist hier der Herr?»
«Ihr.»
Ulrich stutzte. Sein Pferdeknecht klang alles andere als schuldbewusst, im Gegenteil: Er schien sich zu freuen.
«Nun sag schon …»
«Nein, und wenn Ihr mich prügelt.»
Provozierend
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