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Das Gesicht

Das Gesicht

Titel: Das Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean Koontz
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entschieden in einem unzumutbaren Zustand, und man hätte ihn nicht in vornehmer Gesellschaft zum Abendessen einladen können. Harker war Jekylls Hyde, eine Kreuzung aus Quasimodo und dem Phantom der Oper, aber ohne das schwarze Cape, ohne den
Schlapphut und dafür mit einem gehörigen Schuss H. P. Lovecraft.
    Als er auf den Waren links von Michael landete, kauerte sich Harker hin und ging auf alle viere, vielleicht auch alle sechse, und während er davonkrabbelte, wieder in die Richtung, aus der er gekommen war, gab er schrille Schreie von sich, die so klangen wie zwei Stimmen, die sich in wortlosen Kreischlauten miteinander zankten.
    Da er nicht unter Zweifeln an seiner Männlichkeit litt und da er wusste, dass Heldenmut oft blanke Dummheit war, spielte Michael mit dem Gedanken, das Lagerhaus zu verlassen, sich ins Revier zu begeben und sein Kündigungsschreiben aufzusetzen. Doch schon lief er hinter Harker her. Kurz darauf hatte er ihn aus den Augen verloren.
     
    Während er darauf lauschte, was jenseits des Unwetters zu vernehmen war, und Luft einatmete, die kurz zuvor von seiner Beute eingeatmet worden war, bewegte sich Deucalion langsam und geduldig zwischen zwei hohen Wänden aus Waren in Palettenform. Er suchte nicht wirklich; es war eher ein Warten.
    Wie er vorhergesehen hatte, kam Harker zu ihm.
    Da und dort gaben schmale Ritzen in jeder Wand von Kisten den Blick auf den nächsten Gang frei. Als Deucalion an einem solchen Spalt vorbeikam, betrachtete ihn ein bleiches, glitzerndes Gesicht aus zweieinhalb Metern Entfernung in einem Parallelgang.
    »Bruder?«, fragte Harker.
    Deucalion blickte in diese gemarterten Augen und sagte: »Nein.«
    »Was bist du denn dann?«
    »Sein Erster.«
    »Von vor zweihundert Jahren?«, fragte Harker.
    »Und Welten entfernt.«

    »Bist du so menschlich wie ich?«
    »Komm mit mir ans Ende des Gangs«, sagte Deucalion. »Ich kann dir helfen.«
    »Bist du so menschlich wie ich? Mordest und erschaffst du?«
    Mit der Geschmeidigkeit einer Katze erklomm Deucalion die Warenwand und brauchte vom Fußboden bis zur Spitze vielleicht zwei Sekunden, höchstens drei, überquerte sie zum nächsten Gang, sah hinunter und sprang hinab. Er war nicht schnell genug gewesen. Harker war verschwunden.
     
    Carson fand in einer Ecke eine freistehende Wendeltreppe. Schnelle Schritte hallten von Metallrosten hoch über ihr wider. Ein quietschendes Geräusch ging einem abrupten lauten Regenguss voraus. Eine Tür wurde zugeschlagen, und die Unmittelbarkeit der Regengeräusche brach wieder ab.
    Einen Schuss hatte sie noch übrig, als sie sich an den Aufstieg machte.
    Die Stufen führten zu einer Tür. Als sie die Tür öffnete, peitschte ihr Regen ins Gesicht.
    Dahinter lag das Dach.
    Sie drückte auf einen Wandschalter. Draußen über der Tür ging eine Glühbirne in einem Drahtgeflecht an.
    Nachdem sie den Riegel so weit herausgeschoben hatte, dass die Tür nicht automatisch hinter ihr zufallen würde, begab sie sich in das Unwetter hinaus.
    Das breite Dach war flach, aber sie konnte nicht ohne weiteres bis zu den niedrigen Brüstungen sehen. Nicht nur die grauen Regenschleier behinderten ihre Sicht, sondern auch Lüftungsschächte und etliche überdachte Gebilde, die wie Schuppen wirkten – vielleicht waren dort die Heiz- und Kühlsysteme und irgendwelche Elektroelemente untergebracht.
    Der Schalter neben der Tür hatte noch ein paar andere
Lampen in Drahtgeflechten angeknipst, doch das meiste Licht wurde von den Wassermassen aufgesogen.
    Behutsam bewegte sie sich vorwärts.
     
    Klatschnass und fröstelnd, obwohl es warmer Regen war, aber auch sicher, dass die Redewendung »wie ein begossener Pudel« ihm für den Rest seines Lebens Tränen in die Augen treiben würde, bewegte sich Michael zwischen den Lüftungsschächten umher. Argwöhnisch umrundete er einen der Schuppen und machte um jede Ecke einen weiten Bogen.
    Er war jemandem – etwas – aufs Dach gefolgt und wusste, dass er hier nicht allein war.
    Wozu auch immer diese Schuppen dienen mochten – die dicht gedrängte Ansammlung von kleinen Bauten wirkte auf ihn, als seien es Hütten für Hobbits, die auf Dächern lebten. Nachdem er die erste umrundet hatte, versuchte er, die Tür zu öffnen. Abgeschlossen. Die zweite war ebenfalls abgeschlossen. Und die dritte.
    Als er sich dem vierten Schuppen näherte, hörte er ein Geräusch, von dem er meinte, es könnte das Krächzen der Angeln der Tür sein, die er gerade zu öffnen versucht hatte –

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