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Das Gesicht

Das Gesicht

Titel: Das Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean Koontz
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getötet … ohne jede Spur von Mitgefühl.«
    »Komm zu mir«, beharrte Victor.
    »Deine Barmherzigkeit wird sich nicht auf einen von uns erstrecken, der … so tief gesunken ist.«
    Victor spürte ungewohnte Übelkeit in sich aufsteigen. Er fragte sich, ob das der Serienmörder sein könnte, der die Medien in seinen Bann zog. Eines seiner eigenen Geschöpfe, das sich der Programmierung widersetzte, um ohne Genehmigung Morde zu begehen?
    »Komm zu mir, und ich werde dir jede Form von Unterweisung, die du brauchst, zur Verfügung stellen. Hier erwartet dich ausschließlich Mitgefühl.«
    Die elektronisch verzerrte Stimme widersetzte sich ihm
von neuem. »Der Letzte, den ich getötet habe … war einer von deinen.«
    Victors Sorge nahm zu. Eines seiner Geschöpfe tötete ein anderes aus eigenem Entschluss . So etwas war noch nie vorgekommen. Eine programmierte Selbstmordsperre war eng in ihre Psyche verflochten, ebenso wie ein striktes Gebot, das Mord nur aus zwei Gründen gestattete: in Notwehr oder wenn von ihrem Schöpfer die Anweisung erteilt wurde, zu morden.
    »Das Opfer«, sagte Victor. »Sein Name?«
    »Allwine. Sie haben seine Leiche heute Morgen in der Stadtbücherei gefunden.«
    Victor hielt den Atem an, als er die Tragweite dessen bedachte.
    Der Anrufer fuhr fort: »Von Allwine konnte ich nichts lernen. Er war innerlich so wie ich. Ich muss es woanders finden, in anderen.«
    »Was finden?«, fragte Victor.
    »Was ich brauche«, sagte der Anrufer und legte auf.
    Victor wählte *69 – und stellte fest, dass der Anrufer die Funktion des automatischen Rückrufs an seinem Telefon gesperrt hatte.
    Wütend knallte er den Hörer auf die Gabel.
    Er wurde sich vage eines möglichen Rückschlags bewusst.

32
    Nachdem Victor aus dem Haus gegangen war, um sich ins Hände der Barmherzigkeit zu begeben, blieb Erika noch eine Weile im Bett liegen, zusammengerollt wie ein Fötus, eine Haltung, die sie im Schöpfungstank nie eingenommen hatte.
Sie wartete ab, um zu sehen, ob ihre Niedergeschlagenheit vorübergehen oder sich zum dunkleren Morast der Mutlosigkeit verdichten würde.
    Der Wechsel ihrer Gemütszustände schien manchmal herzlich wenig Bezug zu den Erlebnissen zu haben, denen ihre Verfassung entsprang. Auf den Sex mit Victor folgte jedes Mal wieder und ohne jede Ausnahme Niedergeschlagenheit, und das war verständlich; aber wenn diese Niedergeschlagenheit sich eigentlich zu etwas wie tiefster Verzagtheit hätte auswachsen sollen , dann tat sie das manchmal nicht. Und obgleich ihre Zukunft so trostlos zu sein schien, dass ihre Mutlosigkeit unerschütterlich hätte sein müssen, schüttelte sie sie häufig ab.
    Die Erinnerung an Verse von Emily Dickinson konnte sie manchmal aufmuntern und sie aus ihrem Trübsinn herausreißen: »Hoffnung« ist das Ding mit Federn/Das in der Seele hockt/Und unaufhörlich singt das Lied/Das ohne Worte lockt.
    Die Kunstwerke an Victors Wänden waren abstrakt: seltsam miteinander kontrastierende Farbblöcke, die bedrückend aufragten, Farbspritzer oder Grauschmierer auf Schwarz, die Erika wie Chaos oder Annullierung erschienen. In seiner Bibliothek dagegen standen großformatige Kunstbände, und manchmal besserte sich ihre Laune ganz einfach dadurch, dass sie sich in ein einziges Gemälde von Albert Bierstadt oder Childe Hassam vertiefte.
    Man hat ihr beigebracht, dass sie der Neuen Rasse angehört, posthuman, verbessert, überlegen. Gegen Krankheiten ist sie so gut wie immun. Verletzungen verheilen schnell, fast schon wie durch ein Wunder.
    Doch wenn sie Trost braucht, schöpft sie ihn aus der Kunst, der Musik und der Dichtung der einfältigen Menschheit, die sie und ihresgleichen zu ersetzen bestimmt sind.
    Wenn sie verwirrt war oder sich verloren gefühlt hat, hat sie Klarheit und Orientierung in den Schriften der unvollkommenen
Menschheit gefunden. Und die Schriftsteller sind gerade diejenigen, die Victor ganz besonders missfallen würden.
    Das gibt Erika Rätsel auf: Wie kann es sein, dass ausgerechnet eine primitive und misslungene Spezies, die gebrechliche Menschheit, ihr durch ihre Werke Auftrieb geben kann, wogegen es keinem ihresgleichen gelingt, ihr Auftrieb zu geben?
    Darüber würde sie gern mit anderen Angehörigen der Neuen Rasse diskutieren, aber sie befürchtet, einer von ihnen könnte glauben, ihre Verblüffung mache sie zur Häretikerin. In allen ist der Gehorsam gegenüber Victor angelegt, aber einige begegnen ihm mit einer derart unterwürfigen Ehrfurcht, dass sie

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