Das Gesicht
wieder öffnen.
31
Im neunzehnten Jahrhundert hatte ein Steinmetz HÄNDE DER BARMHERZIGKEIT in einen Kalksteinblock über dem Eingang des Krankenhauses gemeißelt. Ein verwittertes Bildnis der Jungfrau Maria blickte auf die Stufen vor dem Haus hinunter.
Das Krankenhaus war schon vor langer Zeit geschlossen worden, und nachdem das Gebäude an eine Scheinfirma unter Victor Helios verkauft worden war, waren die Fenster zugemauert worden. In jeden Eingang waren Stahltüren eingebaut worden, die sowohl mit mechanischen Schlössern als auch mit elektronischen Verriegelungen gesichert waren.
Ein hoher schmiedeeiserner Zaun zog sich wie eine Blockade aus den Speeren einer gesamten römischen Legion um das im Schatten von Eichen liegende Anwesen. An dem elektrischen Rolltor war ein Schild angebracht: PRIVATES LAGERHAUS/KEIN ZUTRITT.
Verborgene Kameras überwachten das Gelände und den näheren Umkreis. Kein Depot, in dem Atomwaffen gelagert wurden, hatte eine größere oder einsatzfreudigere Sicherheitstruppe. Und es gab auch keine diskretere.
Das abschreckende Bauwerk stand geräuschlos da. Kein Lichtstrahl drang nach draußen, obwohl hier die neuen Herrscher der Erde entworfen und hergestellt wurden.
Eine achtzigköpfige Belegschaft lebte und arbeitete innerhalb dieser Mauern und assistierte in einem Labyrinth von Laboratorien bei Experimenten. Räume, in denen früher Krankenhauspatienten untergebracht gewesen waren, boten jetzt fabrikneuen Männern und Frauen eine Behausung. Hier wurden sie auf die Schnelle ausgebildet, bis sie in die Stadtbevölkerung eingeschleust werden konnten.
Die gepanzerten Türen anderer Räume waren abgeschlossen.
Die Geschöpfe, die dort untergebracht waren, mussten eingesperrt bleiben, solange sie beobachtet wurden.
Seinem wesentlichsten Werk widmete sich Victor im Zentrallabor. Dieser gewaltige Raum war im Techno-Stil gehalten, wenn auch mit vereinzelten Art-Déco-Anleihen und einem Schuss wagnerianischen Pomps. Glas, rostfreier Stahl, weiße Keramik: Alles war leicht zu sterilisieren, falls einmal etwas … danebengehen sollte und die Lage brenzlig wurde.
Schlanke und geheimnisvolle Apparaturen, von denen er die meisten selbst entworfen und gebaut hatte, säumten die Wände des Raumes, ragten aus dem Fußboden auf und hingen von der Decke herab. Einige der Maschinen summten, andere blubberten, wieder andere standen stumm und bedrohlich da.
In diesem fensterlosen Labor konnte er, wenn er seine Armbanduhr in eine Schublade legte, Stunden und sogar ganze Tage lang pausenlos schuften. Da er seine Physiologie und seinen Stoffwechsel verbessert hatte, bis der Punkt gekommen war, an dem er so gut wie keinen oder auch überhaupt keinen Schlaf mehr brauchte, war es ihm möglich, leidenschaftlich in seiner Arbeit aufzugehen.
Heute Abend läutete, als er gerade seinen Schreibtisch erreichte, das Telefon. Der Anruf kam auf Leitung fünf. Von acht Leitungen waren die letzten vier, die alle auf einen und denselben Anschluss umgeleitet wurden, für Nachrichten und Anfragen von den Geschöpfen reserviert, mit denen er die Stadt nach und nach bevölkert hatte.
Er nahm den Hörer ab. »Ja?«
Der männliche Anrufer bemühte sich, den Gefühlsüberschwang in seiner Stimme zu unterdrücken, mehr Gefühl, als Victor von einem Angehörigen der Neuen Rasse je zu hören erwartet hatte. »Mit mir geschieht etwas, Vater. Mir stößt etwas zu, etwas Seltsames. Vielleicht ist es sogar etwas ganz Wunderbares.«
Victors Geschöpfen war eingeschärft worden, dass sie sich nur in einer Krisensituation mit ihm in Verbindung setzen durften. »Welcher bist du?«
»Hilf mir, Vater.«
Victor fühlte sich durch das Wort Vater herabgewürdigt. »Ich bin nicht dein Vater. Nenne mir deinen Namen.«
»Ich bin verwirrt … und manchmal fürchte ich mich.«
»Ich habe dich nach deinem Namen gefragt.«
Im Entwurf seiner Geschöpfe war die Fähigkeit, sich ihm zu widersetzen, nicht enthalten, aber dieses hier weigerte sich, seine Identität preiszugeben: »Ich habe begonnen, mich zu verändern .«
»Du musst mir deinen Namen nennen.«
»Mord«, sagte der Anrufer. »Mord … erregt mich.«
Victor ließ sich seine zunehmende Besorgnis nicht anmerken. »Nein, mit deinem Verstand ist alles in Ordnung. Ich mache keine Fehler.«
»Ich verändere mich. Mord ist so lehrreich.«
»Komm sofort her. Suche mich im Hände der Barmherzigkeit auf.«
»Nein, ich glaube nicht, dass ich das tun werde. Ich habe drei Männer
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