Das Gewicht der Liebe
ausgeprägte Hassgefühle gegen Simone. Sie waren jung genug, um sich mit hilflosen Opfern identifizieren zu können. Am letzten Verhandlungstag hat te ein Mädchen zu ihr gesagt: »Ich mag Sie, Ms. Callahan, aber was Ihre Schwester getan hat, war böse. Sie muss ins Gefängnis, sonst bringen alle Mütter ihre Babys um.«
Als sie Handtasche, Mantel und Schirm zusammensuchte, hörte sie aus den hinteren Reihen eine Stimme. Es war Ryan.
»Viel Glück, Ms. Callahan.«
Ein Mädchen in der ersten Reihe feixte. »Klar. Viel Glück.«
Der Rest der Klasse schwieg. Die Vertretung kam, um Roxanne abzulösen, und unter den aufmerksamen Blicken der Schüler verließ Roxanne das Klassenzimmer.
Auf dem Weg nach draußen schaute sie bei Elizabeth vorbei, die aus ihrem Klassenzimmer in den Flur hinauskam, damit sie ungestört reden konnten. Auf der anderen Seite der halb offen stehenden Klassenzimmertür herrschte jene Art von tiefer Stille, die bei einem Raum voller Halbwüchsiger normalerweise Ärger bedeutete, in diesem Fall jedoch verriet, dass alle Schüler gebannt die Ohren spitzten.
»Wirst du zurechtkommen?«, fragte Elizabeth. »Brauchst du jemanden, der dich fährt? Wenn du kein Taxi findest …«
»Das Sekretariat hat mir ein Taxi bestellt. Es wartet draußen. Ty ist auch schon auf dem Weg ins Gericht.«
Elizabeth umarmte sie. »Ich bete für dich, Süße.«
»Nicht für mich. Für Simone.«
»Ja«, sagte Elizabeth. »Für sie auch.«
Es regnete wieder, und der Verkehr staute sich vor jeder Ampel. David Cabot hatte Roxanne versprochen, er werde mit Simone erst dann den Gerichtssaal betreten, wenn sie ihren Platz eingenommen hätte, aber wie lange konnte er es hinauszögern? Einen Block vor dem Gerichtsgebäude be zahlte sie den Fahrer und stieg aus, rannte den restlichen Weg, ohne ihren Schirm zu öffnen.
Sie entdeckte Ty in der Menschenansammlung vor dem Gerichtssaal, und sie traten zusammen ein, nahmen in den bereits voll besetzten Zuschauerreihen ihre Plätze neben Johnny ein. Als sie nach unten blickte, sah sie, dass Johnnys Hose von den Knöcheln bis zu den Knien nass war, als wäre er durch eine Flut gewatet, um rechtzeitig da zu sein. Sie nahm seine Hand und hielt sie fest, während Ty ihre Hand hielt.
Roxanne hörte hinter sich die Tür aufgehen, dann die Stimmen der Reporter, die in einem wilden Durcheinander ihre Fragen in den Raum riefen. Die Tür wurde zugeknallt, und über die Zuschauerreihen legte sich dieselbe unnatürliche Stille wie vorher über Elizabeths Klassenzimmer. Zwei Paar Schritte kam den Mittelgang hinunter. Simone und David blieben neben Johnny stehen. Johnny stand auf, und Simone glitt mechanisch in seine Arme, beide stumm und lautlos.
Roxanne merkte, wie sehr sie ihre Schwester vermisst hatte. Ihre Gedanken wanderten zu jenem letzten unbeschwerten Tag zurück, als sie, in der Wiese liegend, über Shawn Hutton gelacht und sich über das Segeln unterhalten hatten. Vielleicht markierte dieses Gespräch den Beginn von Simones Abgleiten in den Wahn. Sie hatte sich daran erinnert, wie sie über das Wasser geflogen war, und danach war sie auf einen Baum geklettert und hatte sich für ein paar Sekunden wieder vergegenwärtigt, wie es sich anfühlte, mutig und frei zu sein.
»Ich liebe dich«, sagte Roxanne, ohne sich darum zu kümmern, ob jemand sie hörte.
Simones Augen röteten sich, füllten sich aber nicht mit Tränen, die sie früher so leicht vergossen hatte. Sie wandte sich ab und ging mit David Cabot nach vorn, um auf das Urteil zu warten. Roxanne drückte Tys Hand und hielt den Atem an.
Der Gerichtsdiener rief die Zuschauer zur Ordnung, und Richter MacArthur trat mit wehender Robe ein. Er schlug einmal mit dem Hammer auf sein Pult und richtete, ehe er sich setzte, das Wort an das Publikum. »Meine Damen und Herren, in einer Minute werden die Geschworenen ihre Plätze einnehmen und das Urteil wird verlesen werden. Vorher habe ich Ihnen noch etwas zu sagen und ich möchte, dass Sie mir zuhören. Jeder Einzelne von Ihnen.«
Kurioserweise wirkten sein Haar, seine Augenbrauen und sein Oberlippenbart so beängstigend buschig wie nie zuvor.
Er fuhr fort: »Mir ist klar, dass in einem Fall wie diesem die Emotionen hochschlagen, und ganz gleich, wie das Urteil lautet, wird es einige unter Ihnen geben, die damit nicht glücklich sein werden. Ich ermahne Sie hiermit, behalten Sie Ihre Meinungen für sich. Dieser Gerichtssaal ist kein Zirkuszelt, und diese Verhandlung ist keine
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