Das Gewicht der Liebe
grauen Augen. »Ich kann Ihnen nicht erzählen, was in der Therapie Ihrer Schwester passiert, nur so viel: Sie ist sehr tapfer. Und sie weiß, dass sie ohne Ihre Hilfe nicht imstande sein wird, nach Hause zurückzugehen.«
Ein jäher Zorn überfiel sie. »Sie sagen also, es hängt von mir ab. Wieder mal.« Sie mochte Lennox und vertraute ihm, aber manchmal hatte sie diesen ganzen Therapiekram gründlich satt. »Warum bleibt alles immer an mir hängen? Sie war diejenige, die die Mädchen ins Auto gepackt und den giftigen Gasen ausgesetzt hat.«
»Sie vertraut Ihnen. Es gibt niemanden auf der Welt, den sie mehr liebt als Sie. Sie können ihr helfen, Roxanne. Wenn Sie dazu willens sind.«
Lennox wusste zu viel über Roxanne. Sie war zu offen gewesen, hatte ihm zu viel Macht verliehen. Im Verlauf ihrer dreiunddreißig Besuche im St. Anne’s hatte sie über das Haus in Logan Hills gesprochen, über das Royal Flush und den Grund für ihre Taubheit, über ihre Zeit bei Gran und ihre Rückkehr nach Hause. Jetzt bedauerte sie jedes ehrliche Wort, das sie ihm gegenüber jemals hatte verlauten lassen. »Warum tun Sie mir das an? Was gibt Ihnen das Recht, mich derart zu benutzen? Bin ich nicht genug benutzt worden?«
Dr. Lennox senkte den Kopf wie in einem stummen Einverständnis. »Nach Ihrer Rückkehr aus Daneville, wie haben Sie sich gefühlt, als man Ihnen die Obhut für Ihre Schwester übertrug?«
Was glauben Sie, wie ich mich da gefühlt habe?
»Das war nicht wichtig.« Ellen hatte sie einmal im Stich gelassen und sie hätte es wieder getan, hätte Roxanne nicht ihren Forderungen gehorcht.
»Warum war es nicht wichtig?«
Sie wollte aufstehen und weggehen, zurückfahren nach San Diego, und zur Hölle mit dem St. Anne’s und Lennox und ihrer Schwester.
»Wie fühlen Sie sich jetzt? In dieser Minute?«
»Ich möchte natürlich, dass es ihr besser geht.«
»Das ist kein Gefühl.«
Okay: Ich hasse Simone und ich hasse Sie. Sind das Gefühle? Ich will diese Schwester vom Hals haben! Und ich will nach Hause gehen zu meinem Mann und meinem Sohn und nie wieder hierher zurückkommen. Ist das genug Gefühl für Sie?
»Roxanne, was würde geschehen, wenn Sie Ihrer Schwes ter erzählen, wie Sie sich damals fühlten, wie Sie sich immer noch fühlen? Wie Sie sich die ganze Zeit gefühlt haben?«
»Sie weiß, dass ich sie liebe, Dr. Lennox.«
»Ich rede nicht von Liebe.«
Vor dem Fenster, vor dem Hintergrund des blauen Him mels, beugte ein grell gezeichneter gelber Vogel seinen Kopf in das Vogelhäuschen, das vom Dachvorsprung herunterhing.
Nach ihrem Besuch bei Dr. Lennox stand Roxanne in der Eingangshalle des St. Anne’s und sah Simone entgegen, die, in Bluejeans und Tanktop gekleidet, auf sie zukam. Ihre sinnliche Anmut war verschwunden. Sie hatte mehr als zehn Kilo an Gewicht verloren, und in dem dürftigen Oberteil stachen ihre Schlüsselbeine wie eine Knochenkette hervor. Im Verlauf der Jahre schienen ihre Augen größer und dunkler geworden zu sein. Sie beherrschten ihr Gesicht auf eine Art, die aufdringlich und unattraktiv war. Ihr Haar – sie hasste es nach wie vor, sich die Haare selbst zu waschen – hing strähnig und matt hinunter. Dr. Lennox glaubte, es müsse irgendwo im Labyrinth von Simones Geschichte eine Erklärung für ihre Aversion gegen Wasser geben.
»Gehen wir ein Stück spazieren?«, fragte Roxanne, sich bei ihrer Schwester unterhakend.
Das St. Anne’s war ein weit gestrecktes, im Hazienda-Stil erbautes Gebäude mit dicken Betonmauern und einem Ziegeldach, umgeben von einem riesigen, mit Wüsten pflanzen gestalteten Grundstück. Im Sommer lagen die Temperaturen bei vierzig oder mehr Grad. Die meisten Patienten, Besucher und Angestellten zogen es vor, drinnen zu bleiben, wo die Klimaanlage in jedem Zimmer für milde vierundzwanzig Grad sorgte. Simone und Roxanne waren lieber draußen und unter sich. Sie spazierten über den Kiesweg, vorbei an den Biberschwanz- und Weinkakteen, zum Hügel von St. Anne’s. Auf der Kuppe ging oft eine Brise, und ein Unterstand bot ausreichend Schatten. Man hatte Ausblick auf die felsigen Berge und den Gebirgs kamm, wo ein indianischer Stamm Hunderte von Windrädern errichtet hatte.
Der Wind blies Simones Haar aus dem Nacken, enthüll te eine Halskette aus Sommersprossen von einem lang zurückliegenden Sonnenbrand.
Simone sagte: »Erinnerst du dich an diese Windrädchen, die wir als Kinder hatten?«
Mrs. Eno, die orangehaarige Lehrerin aus der Logan Hills
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