Das Gewicht der Liebe
ruiniert worden.«
Roxannes erste Regung war Ärger und Abwehr. Doch ihr Protest blieb unausgesprochen, weil sie es ihrer Schwester nicht verübeln konnte, wütend zu sein. Dr. Balch hatte darauf hingewiesen, und Roxanne war sich dessen bewusst, dass neben Ellen, BJ und Johnny auch sie, Roxanne, ihren Teil dazu beigetragen hatte, jegliches Selbstvertrauen, das sich in Simone womöglich geregt hatte, im Keim zu ersticken. In Roxannes Vorstellung war der vereitelte Wunsch ihrer Schwester, durch die Meere zu segeln, ein Symbol für all die Wege und Seitenpfade geworden, die zu erkunden man ihr nicht erlaubt hatte, für die Fehltritte und Stürze, vor denen ihre Familie sie beschützt hatte, vor den großen und kleinen Katastrophen, die ein notwendiger Teil des Erwachsenwerdens waren.
Liam hatte mit zehn Monaten zu laufen begonnen und war seitdem hundertmal hingefallen. Ty ermutigte ihn zu rennen und zu klettern. Und jedes Mal, wenn ihr kleiner Sohn stürzte und weinte, wollte Roxanne ihn am liebsten hochnehmen und unter eine Glashaube stellen, wo ihm niemals wehgetan werden könnte. Stattdessen küsste sie sein aufgeschrammtes Knie, klebte, wenn nötig, ein Pflas ter darüber, und ließ ihn ziehen. Manchmal bedurfte es ihrer ganzen Willenskraft, um das zu tun.
Johnny besuchte Simone, wenn sie ihn einlud, was nicht oft geschah. Einmal war er an ihrem Hochzeitstag gekommen, und sie hatte ihn weggeschickt. Danach saß er auf der Steinbank im Besuchergarten und weinte, wie er noch niemals geweint hatte, nicht einmal während der Verhand lung oder nach der Urteilsverkündung. Simone sagte, sie liebe ihn, aber Dr. Lennox meinte, sie werde vielleicht nie wieder zu ihm zurückkehren. Sie habe Angst, mit ihm wieder in jenen verlockenden Tanz aus Unterwerfung, Hilflosigkeit und Kontrolle zu verfallen.
Dr. Lennox sagte, Simone und Roxanne seien ebenfalls in einen Tanz verstrickt. »Simone wird nicht aufhören, sich zu neigen und zu drehen, solange Sie den Tanz nicht beenden.« Seine Stimme war freundlich und ruhig, doch Roxanne hatte das Gefühl, er wolle sie rügen, deshalb wand te sie ihm ihr taubes Ohr zu und beobachtete die Vögel im Vogelhäuschen vor seinem Bürofenster. Es war interessant, verblüffend: Irgendetwas am St. Anne’s und an Dr. Lennox brachte ihre Widerspenstigkeit zum Vorschein.
Johnny arbeitete immer noch viel, doch er verbrachte jeden freien Moment mit seinen fünf Mädchen. Olivia und Claire waren bezaubernde kleine Geschöpfe, in ihrem Aussehen und ihrer niedlichen Art einander ähnlich wie Zwillinge. Valli und Victoria hatten den Tag in der Garage noch im Gedächtnis. Doch ihre Erinnerungen waren diffus. Bald würden die Bilder an den Rändern ausfransen, in winzige Bruchstücke zerfallen wie Fasern von zerpflückter Baumwolle.
Roxanne kam es vor, als hätte Merell durch ihre Lüge, um ihre Mutter zu schützen, ihre Unschuld geopfert. Sie war jetzt fast ein Teenager, ein kluges, wildes und unberechenbares Mädchen, empfindlich wie ein unter Strom stehender Draht. Ihre Lehrer beschwerten sich, sie sei unmotiviert, verschlossen und unzuverlässig, und sprachen davon, wie dringend sie Freundschaften schließen sollte. Johnny überlegte, sie in ein Internat in Monterey zu geben, doch Ty und Roxanne überredeten ihn, Merell stattdessen für eine Weile bei ihnen wohnen zu lassen. Sie hatten ein geräumiges Obergeschoss, ein Gästezimmer mit einem wunderschönen Ausblick.
Vor zwei Jahren, als Johnny seinen Plan verkündete, ein neues Haus am Strand von Leucadia zu bauen, war Ellen in der Stadt geblieben und hatte sich ein Haus in der Nä he ihres Büros in Little Italy gekauft, wo immer etwas los war. Sie hatte einen großen Freundeskreis, und ihre Immobilienfirma war ein kleines, aber blühendes Unter nehmen, spezialisiert auf Häuser, die als schwer verkäuflich galten.
In seinem Büro sagte Dr. Lennox zu Roxanne: »Simone fühlt sich immer noch so hilflos wie an ihrem ersten Tag im St. Anne’s. Sie tritt auf der Stelle, und das macht sie wütend. Sie ist wie ein kleines Mädchen im Körper einer Frau, und sie weiß, dass sie dieses Krankenhaus niemals verlassen wird, bevor sie nicht erwachsen geworden ist.«
Obwohl Lennox eine Kapazität und hoch professionell war, redete er mit Roxanne ganz normal, in einer Sprache, die sie beide verstanden.
»Sie sind eine gute Schwester gewesen, aber jetzt ist es Zeit für den nächsten Schritt.« Dr. Lennox beugte sich nach vorn, fixierte Roxanne mit seinen
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