Das Gewicht der Liebe
Gran
Roxanne verließ ihre Großmutter und die Ranch im Alter von neun Jahren. Bis Gran sieben Jahre später starb, standen Großmutter und Enkelin in regelmäßigem Briefver kehr. Einige Zeit nach den beschriebenen Ereignissen stieß Ellen Vadis auf einen Stapel mit alten Briefen. Darunter befand sich, offenbar übersehen und noch zugeklebt, ein an Roxanne adressierter Brief von Gran, geschrieben kurz vor ihrem Tod, als Roxanne ein Teenager war.
Mein liebes Mädchen,
als ich Dich das erste Mal sah, konnte ich kaum glauben, dass in einem einzigen kleinen Kind so viel Entschlossenheit steckte. Solch ein kleines, ausgesetztes Bündel, lange Beine und knochige Knie und trotz Deiner traurigen Augen von etwas Hoffnungsvollem beseelt, als hättest Du von früh an beschlossen, das Leben von der sonnigen Seite zu sehen, ganz gleich, wie die Umstände auch sein mögen. Mit Deinen Plastiksandalen und Deinem verfilzten braunen Rattennest aus Haaren wirktest Du auf mich wie ein Waisenkind. Die Vernachlässigung war Dir überall anzusehen, und es brach mir fast das Herz, obwohl ich Dich, um die Wahrheit zu sagen, nicht haben wollte und wütend war, dass Deine Mutter die Dreistigkeit hatte, Dich auf meiner Veranda abzusetzen und mir nur zwei Tage vorher Bescheid zu geben. Ich brachte Dich in ihrem alten Zimmer unter, und in der ersten Woche hast Du ununterbrochen aus dem einen oder anderen Fenster Ausschau gehalten und Deinen Wachposten nur verlassen, wenn ich Dich zum Essen gerufen habe.
Du musst etwa einen Monat bei mir gewesen sein, als ich zum Abendessen ein Brathühnchen mit Kartoffelbrei und Soße zubereitete und Dir die Aufgabe zuteilte, die Erbsen zu enthülsen. Die einzigen Erbsen, die Du bisher gesehen hattest, waren aus einem Plastikbeutel gekommen. Du konntest gar nicht aufhören, darüber zu staunen, dass die Erbsen in ihre eigenen grünen Schalen verpackt sind. Ich sagte Dir dazu, was ich dachte: dass Gott sich um die guten Dinge auf dieser Erde kümmert. Du fragtest mich, wie Gott aussieht, und das war der Anfang: Drei Jahre lang stelltest Du Fragen, und ich versuchte, sie Dir zu beantworten. Eines ist gewiss und das freute mich – ein Kind, das Fragen stellt, ist ein kluges Kind. Je mehr Fragen, desto besser.
Es ärgerte mich, dass Ellen einfach verschwunden war und Dich zurückgelassen hatte, ohne sich noch einmal umzusehen, aber Du warst trotzdem der Meinung, sie sei jemand Besonde rer. Deine Mutter ist immer egoistisch gewesen. Sie stellte ihr eigenes Vergnügen über die Wünsche anderer. Ich mache dafür Deinen Großvater verantwortlich, der uns verlassen hat. Sie hat ihren Daddy wie verrückt geliebt. Zwischen uns gab es deshalb viel Eifersucht, obwohl ich mich schäme, das jetzt einzugestehen. Er wandte sich einfach von ihr ab und brach in ein Leben auf, das ihm besser gefiel, und sie gab mir dafür die Schuld. Ich kann nicht sagen, ob ich es war, die ihn vertrieben hat: zu viel Zeit ist vergangen. Sicher weiß ich jedoch, dass er die Ranch gehasst hat, die niemals endende Arbeit, und ich kann ihm das nicht verübeln. Als wir heirateten, waren wir noch halbe Kinder, und als junger Mensch fällt es einem schwer, den Wert zu sehen, den Land und Bäume und Früchte im Vergleich zu Partys und Tanzen und all dem Flitterkram haben. Doch nachdem er gegangen war, lernte ich nach und nach, dass man in Arbeit Trost finden kann, eine Art Frieden und eine Dankbarkeit, die einem kein Mann auf Erden geben kann.
Du warst eine harte Arbeiterin, Roxanne. Du wusstest, wie man zuhört und Anweisungen befolgt, und Du schienst aus einer gut gemachten Aufgabe immer eine gewisse Befriedigung zu ziehen. Ich glaube fast, Du hast Dir meine geregelte Lebensweise einverleibt, und das ist keine schlechte Sache. In der ersten Klasse war Buchstabieren Dein Lieblingsfach, vermutlich deshalb, weil es dabei ein klares Richtig und Falsch gibt. Und Du hast sehr gerne auswendig gelernt: die Bundesstaaten, die amerikanischen Präsidenten, die Namen der Blumen im Garten. Du kanntest sie alle.
Im Sommer bist Du morgens immer in Shorts, T-Shirt und den großen Schuhen nach unten gekommen, jene Schuhe, die Du auf mein Geheiß hin anziehen musstest, um Deine Füße vor dem spitzen Zeug zu schützen, das auf einer Ranch immer herumliegt, selbst auf einer so gepflegten Ranch wie mei ner. Du hast nie von mir erwartet, dass ich Dir Dein Frühstück zubereite. Und ich habe herausgefunden, dass vorher noch niemals jemand Pfannkuchen oder
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