Das Gewicht der Liebe
Spiegeleier für Dich gemacht hat. Nach dem Frühstück hast Du unaufgefordert den Tisch abgeräumt und danach Deine tägliche Liste geschrieben und mich nach den Wörtern gefragt, die Du nicht buchstabieren konntest. Du sagtest, die Liste sei Dein Tagesplan. Damals hattest Du die große Aufgabe, Dich um die Hühner zu kümmern, sie zu füttern und die Eier einzusammeln. Ich gab Dir einen kleinen, für Kinder geeigneten Rechen, damit Du den großen Hühnerstall sauber halten konntest. Diese Arbeit hat Dir Spaß gemacht, das weiß ich. Und es hat Dir gefallen, die erledigten Aufgaben auf Deiner Liste durchzustreichen.
Du hast sogar auf eine ordentliche Art gespielt. In Deinem Zimmer befand sich ein halbes Dutzend Puppen, die noch von Deiner Mutter stammten. Du hast sie auf Stühle gesetzt und Schule gespielt, hast diesen Puppen alles beigebracht, was Du gerade lerntest. Und danach hast Du ihnen Geschichten vorgelesen, bist auf Deinem Bett gesessen und hast alle Puppen liebevoll um Dich herum versammelt, wie die Familie, die Du so gern gehabt hättest. Du warst ein süßes Ding.
Für mich bedeuten diese Jahre, die Du bei mir auf der Ranch verbracht hast, die glücklichste Zeit meines Lebens. Ich fühlte mich, als hätte Gott mir eine zweite Chance gegeben, um noch einmal Mutter zu sein. Ich weiß, ich habe bei Ellen versagt. Und vielleicht hätte ich mit ihr darüber sprechen sollen. Vielleicht wäre unser Verhältnis dann anders gewesen. Aber ich hatte immer so viel Stolz in mir, was eine Art von Selbstschutz war. Ich konnte nie sagen, es tut mir leid, oder um Verzeihung bitten. Als Dein Großvater zu mir kam, um Abschied zu nehmen, hätte ich ihm sagen sollen, dass ich ihn liebe und mir wünsche, er würde bei mir bleiben. Aber in seinen Augen konnte ich lesen, dass er bereits weit weg war, und ich wollte mich nicht erniedrigen. Ich habe nicht einmal geweint. Er wollte sich auch von Ellen verabschieden, aber ich sagte, er habe dazu kein Recht, und er bettelte mich unter Tränen an. Ich schäme mich, es zu sagen, aber diese Tränen gaben mir eine tiefe Befriedigung.
Was Dich angeht, so gab es nur eine Sache, die mir Sorgen bereitete. Vom ersten Tag an fiel mir auf, dass Du daran gewöhnt warst, Dich an die zweite Stelle zu setzen, Dein eigenes Wohl für das eines anderen hinzugeben, Dich an jemand an deren zu verschwenden, wer immer Dich am meisten brauchte und den meisten Wind darum machte. Deine Mutter hatte das auch erkannt, vermute ich. Als sie zurückkam, um Dich abzu holen, wusste ich, dass sie noch ein anderes kleines Mädchen in San Diego hatte, mit dem sie genauso wenig umgehen konnte wie mit Dir. Ich hätte Dich gern bei mir behalten, aber sie hatte ihre Pläne, und wie immer stand Ellen an erster Stelle.
Du bist jetzt ein großes Mädchen, eigentlich schon eine Frau, und jeden Tag frage ich mich, wie Du Dich wohl entpuppt haben wirst und ob Du manchmal noch an die guten Zeiten zurückdenkst, die wir hier auf der Ranch hatten. Er innerst Du Dich an Pablo Salazar und seine Familie? Sie kom men immer noch jeden August zur Obstlese zu mir. Und der Junge, Raul, der Dir im Bewässerungskanal das Schwimmen beigebracht hat, er ist jetzt Buchhalter in San José. Deine Pup pen sitzen alle aufgereiht auf dem Bett, warten darauf, dass Du ihnen wieder eine Gutenachtgeschichte vorliest. Dein Pony habe ich behalten, bis es gestorben ist. Es ist eines Nachmit tags einfach für immer eingeschlafen. Ich hoffe, ich werde eben so friedlich gehen. Es wird nicht mehr lange dauern. Die Ärzte geben mir Unmengen von Schmerzmitteln, aber es kommt mir vor, als könnte ich den Krebs fühlen, der in mir wächst. Eines Tages wird er so groß sein, dass er die Seele aus meinem Körper heraustreibt.
Denk manchmal an mich, Roxanne. Sei gut zu Dir selbst und werde groß und stark. Finde jemanden, der Dich für alles, was Du bist, liebt, und das ist sehr viel. Und erinnere Dich immer daran, dass Du mein Mädchen warst, Roxanne, und ich in meinem ganzen Leben niemanden so sehr geliebt habe wie Dich.
A nmerkung der A utorin
Die postpartale Depression meiner Mutter
I ch war zwölf, als meine Schwester, Margaret Ellen, geboren wurde, alt genug, um zu wissen, dass unsere Familie – und damit meine ich unsere Mutter, die das Herz und die Seele von uns allen war – seit der Ankunft dieser Baby schwester Probleme hatte. Mein neunjähriger Bruder Kip – selbst damals schon einer, der sich ständig sorgte – war sich der Veränderung
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