Das Gift der Engel
fasziniert haben. Und dann ist sie dahintergekommen, was hier passiert. Sie war zwar eine romantische Dichterin, aber so weltfremd war sie nun auch wieder nicht, dass sie nicht irgendwann verstanden hätte, dass hier ein grausam misshandeltes Kind eingesperrt lebt.«
Alban verstummte. In Bernardi ging etwas vor. Er hatte die Kiefer aufeinandergepresst. Ein Schweißfilm zeigte sich auf der Stirn.
Weg hier, dachte Alban. Er packte Simone an der Hand und zog sie mit in Richtung der Tür, doch sie hatten gerade einen Schritt hinter sich gebracht, da schrie Bernardi auf.
»Stehen bleiben. Subito .«
Sie drehten sich um. Bernardis Gesicht war wutverzerrt. In der Hand hielt er eine Pistole.
Alles ist verloren.
Verloren, verloren.
Sie wartet nicht mehr auf dich, hat der Mann gesagt. Und der Junge hat begriffen, dass das die Wahrheit ist.
Sie wartet nicht mehr …
Die Stimme des Mannes hat nicht gelogen.
Es dauert eine Weile, bis ihm bewusst wird, dass sich etwas verändert hat.
Da sind Menschen im Haus. Weit weg, aber für sein feines Ohr deutlich zu hören. Sie sprechen laut miteinander. Einer davon ist der Mann. Aber da ist noch jemand.
Ein Fremder.
Der Junge steht auf und will die Tür öffnen. Es geht nicht. Der Mann hat ihn eingeschlossen.
Der Junge lehnt sich an das kalte Holz des Türblatts.
Er hört Schritte auf dem Flur.
Er klopft.
Die Person draußen bleibt stehen und öffnet.
Luisa sieht ihn aufmerksam an und gibt ihm zu verstehen, dass da zwei Leute im großen Saal sind. Seltsame Menschen. Angsteinflößend.
Dann fragt sie ihn, ob sie ihm etwas bringen soll. Einen Tee vielleicht?
Er schüttelt den Kopf, und sie geht in Richtung des anderen Flügels, wo ihre Wohnung liegt.
Der Junge tritt auf den Flur. Langsam nähert er sich der Tür.
Die Stimmen werden lauter.
»Sie sind zu weit gegangen, Herr Alban. Es tut mir leid, das sagen zu müssen.«
»Sie haben sie also tatsächlich getötet«, sagte Alban, und obwohl er angesichts der Waffe, die Bernardi in seine Richtung hielt, wachsende Angst verspürte, erfüllte ihn paradoxerweise auch ein Gefühl der Befriedigung.
Was kann ich nur tun?, fragte er sich. Einfach auf Bernardi loslaufen und ihm die Pistole aus der Hand schlagen? Zu zweit könnte es vielleicht gelingen. Aber Simone stand nur reglos da, wie erstarrt.
»Wir stehen vor der Schlussphase des Projekts«, rief Bernardi. »Jahrelang haben wir auf diesen Moment hingearbeitet. Bald wird Domenico ein Superstar sein. Er besitzt eine Stimme, wie sie die Welt noch nicht gehört hat.«
Ich muss ihn hinhalten, dachte Alban. Hinhalten, damit er uns nicht einfach über den Haufen schießt. Mit ihm reden.
»Sie können uns nicht beide zugleich erschießen«, sagt Alban.
»Wollen Sie es darauf ankommen lassen?«
»Lassen Sie uns zur Polizei gehen und alles klären. Wegen Jochs Tod sitzt ein anderer im Gefängnis. Finden Sie das gerecht?«
»Der schwule Freund«, sagte Bernardi verächtlich. »Er hat es nicht anders verdient. Es war viel zu gefährlich von Joch, sich diesen Freund anzuschaffen, gerade wo wir mit unserem Projekt an die Öffentlichkeit gehen wollten.«
»Um auf Kosten eines unschuldigen Kindes Profit zu machen.«
Bernardi schüttelte den Kopf. »Unsinn, ich habe Geld genug. Es geht darum, dieses große Geheimnis der Musik zu lüften. Viele haben versucht, die Musik der Kastraten auf die Bühne zu bringen. Countertenöre, aber auch Sängerinnen. Cecilia Bartoli. Aber das sind alles hilflose Versuche gegen das, was ich der Welt zeigen werde. Die Kastraten werden wiederauferstehen. Ihre Stimme wird wiederauferstehen. Dank eines einzigartigen Experiments. Meines Experiments. Des bedeutendsten Experiments, das es in der Musikwissenschaft je gegeben hat. Wenn es in unserem Fach den Nobelpreis gäbe, ich müsste ihn bekommen.« Er machte eine Pause und hielt dabei weiter Alban und Simone in Schach. »Auch Sie würden doch gern seine Stimme hören, oder nicht? Warum sind Sie sonst hergekommen? Doch nicht, um einen Mörder zu finden … Schade, dass Sie, Herr Kollege, die Stimme des Kastraten nicht mehr hören werden. Haben Sie gelesen, was über diese Sänger geschrieben steht? Haben Sie gelesen, wie sie umjubelt wurden? Frau von Schaumburg … wussten Sie, dass sie Moreschi noch gehört hat? Als Kind, im Vatikan, auf einer Reise. Der Engel von Rom … Sie war seitdem verzaubert von dieser Stimme, und sie war bereit, viel Geld dafür auszugeben, um eine solche Stimme
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