Das Gift der Engel
belustigt zu wirken. »Ich habe keine Lust, mit Ihnen darüber zu diskutieren, wer hier lebte und wer nicht. Sie sind hier eingedrungen. Warum, weiß ich nicht. Ich denke, ich werde jetzt die Polizei anrufen. Oder haben Sie eine Erklärung, die mir und Ihnen das erspart? Schließlich sind wir so etwas wie Kollegen. Es täte mir sehr leid …«
Alban dachte nach. Bernardi konnte sich immer noch damit herausreden, dass er einfach ein abgelegenes Studiendomizil bewohnte, das ihm Frau von Schaumburg zur Verfügung gestellt hatte. Wenn niemand den Jungen fand, fehlte der Beweis, der seiner Theorie die entscheidende Stütze verlieh. Er warf einen kurzen Blick auf Simone, die ängstlich dreinsah.
Wenn sie jetzt gingen, war alles verloren. Bernardi würde seinen Kastraten wiederfinden. Vielleicht hatte er ihn auch schon gefunden. Die Polizei würde ihn vielleicht befragen, weil er Dr. Joch kannte. Aber es würde kaum eine Hausdurchsuchung geben – und wenn, würde sie die Beamten nicht auf die ganze Wahrheit bringen.
Alban entschloss sich, nicht so einfach die Waffen zu strecken.
»Welches ist Ihr musikwissenschaftliches Spezialgebiet?«, fragte er Bernardi.
Der Dottore machte ein amüsiertes Gesicht. Er setzte den rechten Fuß auf einen der Stühle und stützte einen Ellbogen auf den Oberschenkel. »Was soll das, Herr Alban?«
»Sagen Sie es mir.«
»Ich habe über allerlei geforscht. Die Oper. Schließlich bin ich Italiener. Aber auch andere Themen interessieren mich. Habe ich es Ihnen nicht erzählt? Bach, Beethoven natürlich …«
»Sie sind Experte für Kastraten«, brach es aus Alban hervor. »Schon vor über zehn Jahren haben Sie in einem Interview erklärt, dass die Frage, wie die Stimmen der Kastraten geklungen haben, eines der größten Geheimnisse der Musikwissenschaft sei.«
»Aber Herr Alban! Was ist daran so ungewöhnlich? Und es gibt die Aufnahmen von Alessandro Moreschi …«
»… die aber nicht aus der Blütezeit der Kastratenmusik stammen. Sie haben in demselben Interview gesagt, sie seien in der Lage, einen solchen Sänger auszubilden, wenn es denn einen gäbe. Außerdem erklärten Sie sehr genau, wie man vorgehen muss, um so etwas zu machen. Man braucht einen sängerisch und allgemein musikalisch begabten Jungen, den man unter seine Obhut nehmen muss, wenn er etwa sieben Jahre alt ist. Vor dem Stimmbruch muss die Operation durchgeführt werden. Eine Operation, die im 18. Jahrhundert eine grausame und lebensgefährliche Schlachterei war. Heute ist das nur noch ein kleiner Eingriff. Aber natürlich hat er extreme Folgen für den Patienten. Doch wenn man die Sensation eines Kastraten haben will, könnte es die Sache wert sein. Sogar das haben Sie in dem Interview gesagt.«
Bernardi unterbrach Alban durch dröhnendes Gelächter. Es war schlecht geschauspielert, das war Alban sofort klar. Bernardi nahm das Bein vom Stuhl und wanderte im Saal umher, wobei er immer wieder den Kopf schüttelte. Plötzlich blieb er stehen und sah Alban an.
»Und Sie glauben, ich hätte diesen Plan hier oben verwirklicht? Das glauben Sie tatsächlich?«
»Ich habe Ihnen die Arie gezeigt. Sie taten so, als hätten Sie die Partitur noch nie gesehen. Sie haben das Stück als Komposition eines Stümpers niedergemacht. Dabei hat sie der junge Domenico Carini geschrieben. Der Junge, den Sie vor Jahren entführten oder entführen ließen. Einen jungen, begabten Sänger, damals gerade sieben Jahre alt. Genau im richtigen Alter. Er hat das Werk geschrieben, und dabei natürlich sein Instrument, die Stimme, am besten eingesetzt. Die anderen Instrumente, die begleitenden Streicher, beherrschte er nicht so gut. Deswegen ist das Werk in dieser Beziehung auch handwerklich alles andere als perfekt.«
»Was faseln Sie da von einem entführten Jungen? Was wäre, wenn ich einen Sohn hätte, den ich musikalisch ausbilden will? Ist das verboten? Ich kann hier oben machen, was ich will.«
»Warum musste Dr. Joch sterben, Herr Bernardi? Hat er vielleicht nicht mehr mitmachen wollen bei Ihrer subtilen Kindesmisshandlung?«
Bernardi schüttelte den Kopf.
»Oder hat er vielleicht herausgefunden, dass Sie, um das Projekt geheim zu halten, bereits einen Mord begangen hatten?«
Der Dottore sah Alban aufmerksam an. Der inszenierte Humor war verflogen.
»Ja, ich spreche von Dagmar Dennekamp«, redete Alban weiter. »Sie ist hier in den Wäldern umhergestreift und hat den kleinen Domenico singen hören. Sein Gesang muss sie
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