Das Gift der Engel
Kurz darauf kam sie zurück.
»Ich kriege keinen Empfang. Wir können Herrn Kessler nicht anrufen. Herrn Kessler nicht, und auch sonst niemanden. Wir können nur ans Tor zurückgehen«, überlegte Simone. »Und sehen, ob es dort Empfang gibt.«
Alban ging ein paar Schritte in den Keller hinein. Weiter hinten wurde eine Treppe sichtbar, die nach oben führte.
Er war an der Treppe angelangt. Am oberen Ende war eine Tür zu erkennen. Er ging die paar Stufen hinauf, drückte die Klinke. Offen. Der Weg war frei.
»Nikolaus, was machst du denn?«
Er drehte sich zu Simone um, die unten stehen geblieben war.
»Ich will es endlich wissen«, murmelte er.
»Aber Nikolaus …«
Er konnte einfach nicht anders. Er musste dort hinaufgehen.
Es ist wie in diesem lächerlichen Film über die Dinosaurier, dachte er. So müssen sich die Forscher gefühlt haben, als man ihnen in Aussicht stellte, einen echten Tyrannosaurus Rex zu sehen. Im selben Moment, in dem ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging, erschrak er auch schon über den monströsen Vergleich. Es war kein prähistorisches Tier, das sie hier gezüchtet hatten. Es handelte sich um einen Menschen. Einen Menschen, dessen Leben man zerstört hatte. Zerstört durch Geldgier, übertriebenen wissenschaftlichen Eifer und sexuelle Perversion. Einen Menschen mit einer faszinierenden Fähigkeit …
»Wenn du willst, geh zurück«, sagte er ruhig. »Ich werde jedenfalls herauszufinden versuchen, ob meine Theorie stimmt. Bisher spricht alles dafür. Wenn wir uns beeilen, finden wir die entsprechenden Beweise, bevor Bernardi zurückkommt.«
Er wandte sich um, ging durch die Tür und trat auf weichen Teppichboden. Das Licht, das aus dem Keller drang, beleuchtete einen schmalen Flur. Alban tastete sich an der Wand entlang und fand einen Lichtschalter.
Dann hörte er Schritte hinter sich.
Simone kam hinter ihm die Treppe herauf.
25
Links und rechts reihten sich weiß gestrichene Türen aneinander.
Ohne zu zögern, drückte Alban die erste Klinke herunter, öffnete und machte Licht.
Sie standen in einem großen Wohnzimmer mit Couchgarnitur, Schrankwand, einem Fernseher, Stereoanlage und Schreibtisch. Er ging an das Regal und zog ein paar CDs heraus. Es waren Aufnahmen von Countertenören. Alban legte den Kopf schief und studierte die Titel der Bücher. Hier fand sich das, was er in Jochs Wohnung vermisst hatte. Die typische Bibliothek eines Musikfreundes: Biografien der großen Komponisten. Hildesheimers Mozart-Buch, flankiert von einer Auswahl Mozart-Briefe, die Bach-Biografie von Albert Schweitzer. Alban erkannte sofort, dass es sich um ein Originalexemplar von 1908 handelte.
»Schau mal hier«, sagte Simone hinter ihm. Er drehte sich um und sah, wie sie ein gerahmtes Foto vom Schreibtisch nahm. Es zeigte ein junges lächelndes Gesicht. Arne Zimmermann.
Alban überprüfte zwei weitere Türen, die von dem Zimmer abgingen. Die eine führte in ein Bad, das offensichtlich auch benutzt worden war, denn es gab die typischen Utensilien. Hinter der anderen lag ein Schlafzimmer.
Dr. Jochs eigentliches Domizil, dachte Alban. Er wird sich hier häufiger aufgehalten haben als in seiner Wohnung am Poppelsdorfer Schloss.
Zurück auf dem Flur, überprüften sie die nächste Tür. Die Räume dahinter waren genauso geschnitten, doch das Wohnzimmer glich hier viel mehr einem mit Büchern und Manuskripten vollgestopften Arbeitsraum. Alle Wände waren mit Regalen bedeckt, und auch auf dem Fußboden stapelten sich Papiere.
Vor einem der Fenster befand sich ein riesiger Schreibtisch, ähnlich altertümlich wie Albans, allerdings völlig mit Büchern und Papieren überfrachtet. Dahinter ragte ein Computerbildschirm auf.
»Hier dürfte Bernardi residieren«, sagte Alban. Sein Blick fiel auf eine außergewöhnliche Reihe von Büchern. Ein- und derselbe Titel stand etwa zwanzigmal nebeneinander. Der Buchrücken war breit und leuchtete in aggressivem Rot. Alban nahm einen der Bände heraus und zeigte ihn Simone. »Hier hast du den Beweis«, sagte er.
»Ich kann kein Italienisch. Was heißt das auf Deutsch?«
Alban war durch seine Internetrecherchen vorbereitet. »Die Kunst der Kastraten im Licht der Musikpädagogik. Bernardi hat es geschrieben. Er ist Kastratenforscher. Eine Kapazität auf diesem Gebiet.«
Simone schüttelte den Kopf. »Unglaublich.«
»Es passt alles zusammen. Sie wollten einen Kastraten erschaffen. Jeder hatte sein eigenes Interesse daran. Bernardi ein
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