Das Gift der Engel
treffen.
Um zwanzig nach neun hatte Alban den Bonner Generalanzeiger überflogen, dabei die Kaffeekanne geleert und sich die beiden Brötchen einverleibt. Er zog seinen Mantel an, setzte seinen dunklen Hut auf und wollte das Haus verlassen. Auf der inneren Klinke klebte ein Notizzettel. Kammermusikabend! , hatte Simone geschrieben. Was wollt ihr essen?
Alban holte einen Stift, notierte etwas für Simone und legte den Zettel auf den Küchentisch. Er zückte gerade den Schlüssel, um das Haus abzuschließen, da fiel ihm ein, dass er das Wichtigste beinahe vergessen hätte. Er eilte die Treppe zu seinem Arbeitszimmer hinauf, legte die Partitur in eine schmale Mappe und verließ das Haus erneut.
Es macht sich eben bemerkbar, wenn man auf die sechzig zugeht, dachte er, als er seinen schwarzen Volvo anließ und ihn aus der Einfahrt lenkte.
Gräbers Vorlesung zum Thema »Brahms, die Neudeutschen und das Problem der absoluten Musik« begann um zehn. Alban wusste natürlich, dass diese Zeitangabe in akademischen Kreisen eigentlich Viertel nach zehn bedeutete. Und nun, als Alban die Stufen der Tiefgarage am Bonner Schloss heraufstieg, kam Gräber gerade durch den Hofgarten vom musikwissenschaftlichen Seminar herüberspaziert.
Der Professor, leicht zu erkennen an seinem klotzigen schwarzen Brillengestell, arbeitete sich gerade durch einen Pulk von Studenten. Sein heller offener Trenchcoat flatterte, und die dicke Aktentasche schien schwer zu sein, denn sie verursachte deutliche Schlagseite. Alle paar Schritte wischte sich Gräber über die Haare, doch der Wind schob die graue Strähne immer wieder zur Seite und gab den Blick auf eine fleckige Glatze frei.
Als der Professor näher gekommen war, blickte er zunächst unbeteiligt durch Alban hindurch. Von diesem angesprochen, veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Für Sekundenbruchteile konnte man es in Gräbers Gesicht arbeiten sehen.
»Herr … Herr Arnold, richtig? Der Herr Rezensent!«
»Alban«, korrigierte Alban, und Gräber wechselte die schwere Tasche von rechts nach links, um seinem Gegenüber die Hand zu schütteln
»Schnuppern Sie ein wenig akademische Luft, oder machen Sie nur einen Herbstspaziergang bei dem herrlichen Wetter?«
»Ich möchte Ihnen etwas zeigen, das Sie sicher interessieren wird.«
Gräber blieb stehen. »Das tut mir leid, Herr Alban, aber …«
»Ich weiß, Sie halten jetzt gleich eine Vorlesung, und ich möchte Sie auch keinesfalls lange aufhalten.«
Alban deutete auf eine der Bänke, die die Allee neben der Hofgartenwiese säumten.
»Na ja, wenn es wirklich nur einen Moment …«
Gräber stellte seine Tasche ab, und Alban zog die Partitur hervor. Der Professor zog die Augenbrauen hoch, als er erkannte, dass es sich um Noten handelte.
»Na, Sie werden doch nicht etwas Verschollenes entdeckt haben? Mozarts Cellokonzert vielleicht? Darüber habe ich nämlich neulich einen Aufsatz von … wie hieß er doch gleich … In den osteuropäischen Ländern tauchen jetzt immer mehr Handschriften auf, die Leute fangen an, ihre alten Möbel auf den Dachböden genauer zu untersuchen, und da finden sie …« Er brachte seine Haare in Ordnung, an denen der leichte Herbstwind wieder gezupft hatte.
»Ich denke, das ist die Abschrift einer barocken Arie«, sagte Alban. »Mich würde interessieren, wer sie komponiert hat.«
Der Professor nahm das Titelblatt in Augenschein. »Es ist kein Name angegeben«, sagte Alban.
»Aber vielleicht gibt es andere Anhaltspunkte – zum Beispiel den Stil.«
Gräbers Augen hinter den dicken Brillengläsern verfolgten aufmerksam die Noten. »Lascia ch’io pianga« , sagte er. »Eigenartig …«
Der Professor hatte entdeckt, was Alban am Abend zuvor aufgefallen war und worüber er nach dem Abendessen in seiner Bibliothek noch ausführliche Nachforschungen angestellt hatte. Es gab in der Oper »Rinaldo« von Georg Friedrich Händel die berühmte Arie »Lascia ch’io pianga«. In dem Stück besingt die Prinzessin Almirena, von einer bösen Zauberin entführt und auf deren Schloss gefangen, ihr trauriges Schicksal. Im weiteren Verlauf der Handlung tritt der junge mutige Held Rinaldo auf den Plan, der eigentlich gerade die Stadt Jerusalem von den Heiden befreien wollte. Vorher gelingt es ihm jedoch, Almirena zu retten.
»Die Musik weist ganz andere harmonische und formale Eigenschaften auf als die von Händel«, konstatierte Gräber.
»Das ist es ja«, sagte Alban. »Kennen Sie jemanden, der den Text noch
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