Die zerbrochene Uhr
EIN NACHMITTAG IM FEBRUAR
Der Mann in der komfortablen Kutsche drückte sich tiefer in seine Pelze und blinzelte grimmig aus dem Fenster. Er lauschte auf das Knarren der Kutsche und war sicher, daß der Weg, dessen tiefe, noch vor wenigen Tagen schlammige Kuhlen nun hart gefroren waren und das Gefährt schüttelten wie ein kleines Boot in der Brandung, die Räder brechen lassen würde.
Das Land lag düster, frostiger Wind fegte über die weite Heide. Alles, was hier lebte, verkroch sich tief im Gestrüpp. Die Hasen drückten sich in ihre Sassen, Feldmäuse, Kaninchen und die einzige Kreuzotternfamilie dieser unwirtlichen Region dösten in den tiefsten Ecken ihrer Löcher und Höhlen und träumten gegen den Winterhunger vom Frühling. Ein wenig weiter südlich, dort, wo magerer Wald dem Wind trotzte, schlief auch ein Dachs zusammengerollt in seinem Bau. Bald würde er erwachen und zur nächtlichen Jagd hinaus in die Heide schleichen. Die war vom Frost so grau wie der Himmel, und nur der Schrei einer Möwe, die sich in ihrer maßlosen Neugier vom Meer hierher verirrt hatte, durchschnitt die Stille über den Hügeln, übertönte gar das Poltern der vierspännigen Kutsche auf dem gefrorenen Weg.
Schon beim Erwachen an diesem Morgen hatte der Mann gewußt, daß ihn kein guter Tag erwartete. Es war noch dunkel gewesen und das Feuer im Kamin seines Schlafzimmers nur mehr ein letzter Klumpen erlöschende Glut. Der Diener kam, ihn zu rasieren, etliche Minuten zu spät, und das Wasser, das er mitbrachte, war nicht ein wenig mehr als handwarm, wie er es liebte, sondern kalt, als komme es frisch aus dem Brunnen. Der Luftzug in den Fluren des Hauses sei heute so eisig, murmelte der Diener, aber das nützte ihm nichts. Als er endlich mit neuem Wasser zurückkam, hatte er die Schale auf eine mit glühenden Kohlenstücken gefüllte messingne Bettpfanne gestellt, und es war viel zu heiß. Tage, die so begannen, konnten nicht gut enden.
Wahrscheinlich, dachte der Reisende in der Kutsche, würde er heute nacht in dieser verdammten Einöde erfrieren. Und alles nur, weil ein exzentrischer alter Mann, der abgesehen von ein bißchen Gicht und Zahnweh bei bester Gesundheit war, plötzlich zu sterben glaubte und seinem Advokaten ein nicht minder exzentrisches Testament übergeben wollte. Was hieß hier überhaupt alter Mann? Er selbst war nur um fünf Jahre jünger und fühlte sich mit seinen Vierundfünfzig bei Gott noch nicht alt.
Dieses verdammte Testament. So war es eben, wenn ein reicher Mann nicht, wie es sich gehörte, beizeiten eine vernünftige, gesunde Ehefrau wählte. Der Mensch braucht Erben von eigenem Blut. Alles andere ist nicht in Gottes Sinn und bringt Verdruß, wenn nicht gar Schlimmeres. Sein Klient hatte sich dieser Pflicht entzogen. Und nun? Nun hatte er sein Testament gemacht, aber was für ein Testament!
Nur einen Menschen, so hatte er gesagt, habe er in seinem ganzen Leben für würdig befunden, sein Erbe anzutreten. Einen Freund aus alter Zeit, ein Uhrmacher, fromm und gottesfürchtig wie er selbst (und wahrscheinlich ebenso geizig, hatte der Advokat in Gedanken hinzugefügt), eine treue Seele und der einzige, der nie versucht hatte, ihn zu übervorteilen oder von seinem wachsenden Reichtum zu profitieren. Der einzige! hatte er noch einmal betont, was der Advokat gelassen ignorierte. Er hatte längst gelernt, daß Reichtum nicht unbedingt zu Zufriedenheit, aber immer zu wucherndem Mißtrauen führt.
Da war also dieser Freund gewesen, der einzige in der armen Welt des reichen Mannes. Leider war der schon lange tot, und leider hatte er auch nur zwei Töchter gezeugt. Weibliche Wesen, also keine, denen man Besitz anvertrauen konnte. Deshalb sollte deren erstgeborener Sohn, egal, ob die jüngere oder die ältere zuerst Mutter wurde, der Erbe sein. Was etliche Probleme aufwarf. Noch waren diese Töchter nicht einmal verheiratet. Würden sie überhaupt Söhne gebären? Und wann? Immerhin war bekannt, wo die Mädchen jetzt lebten, in Anbetracht dieser seltsamen Umstände schon ein Glück. Da sein Klient ihm streng verboten hatte, den Inhalt des Testaments schon vor der Geburt seines zukünftigen Erben bekanntzugeben, würde ihm also nichts anderes übrigbleiben, als den Lebensweg der beiden Mädchen zu verfolgen, die, gerade achtzehn und zwanzig Jahre alt, mit ihrer Mutter in einer nur wenige Meilen entfernten Stadt lebten. Die Witwe und die Töchter des treuen alten Freundes verdienten ihren Unterhalt brav, aber
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