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Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften

Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften

Titel: Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hermann Hesse
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Liste – sie hieß unter den Lateinschülern »das goldene Buch«, es gab gelegentlich für sie aber auch die respektlose Bezeichnung »Streberkatalog« – hatte Josef in der Schule gelegentlich reden hören, und in ganz verschiedenen Tonarten. Wenn ein Lehrer diese Liste erwähnte, und sei es nur, um einem Schüler vorzuhalten, daß ein Bursche wie er natürlich niemals daran denken könne, es so weit zu bringen, dann war etwas von Feierlichkeit, von Respekt und auch von Wichtigtuerei in seinem Ton. Sprachen aber die Schüler einmal vom Streberkatalog, dann taten sie es meistens auf schnoddrige Art und mit etwas übertriebener Gleichgültigkeit. Einmal hatte Josef einen Schüler sagen hören: »Ach was, ich spucke euch auf diesen blöden Streberkatalog! Wer ein Kerl ist, der kommt nicht dort hinein, darauf kann man sich verlassen. Dorthin schicken die Lehrer bloß die allerdicksten Schanzer und Kriecher.«
    Es folgte eine merkwürdige Zeit auf das schöne Erlebnis. Er wußte vorerst nichts davon, daß er jetzt zu den »electi«, zur »flos juventutis« gehöre, wie im Orden die Eliteschüler heißen; er dachte zunächst keineswegs an praktische Folgen und spürbare Auswirkungen des Erlebnisses in seinem Schicksal und Alltag, und während er für seine Lehrer schon ein
Ausgezeichneter und Abschiednehmender war, erlebte er selbst seine Berufung beinahe nur als einen Vorgang im eigenen Innern. Auch so war es ein scharfer Einschnitt in seinem Leben. Wenn auch die Stunde mit dem Zaubermann in seinem Herzen schon Geahntes erfüllte oder näherrückte, es war dennoch durch eben jene Stunde das Gestern vom Heute, das Gewesene vom Jetzigen und Kommenden deutlich getrennt, so wie ein aus dem Traum Erweckter auch dann, wenn er in derselben Umgebung aufwacht, die er im Traum gesehen hat, an seinem Wachsein nicht zweifeln kann. Es gibt viele Arten und Formen der Berufung, der Kern und Sinn des Erlebnisses aber ist immer derselbe: es wird die Seele dadurch erweckt, verwandelt oder gesteigert, daß statt der Träume und Ahnungen von innen plötzlich ein Anruf von außen, ein Stück Wirklichkeit dasteht und eingreift. Hier nun war das Stück Wirklichkeit die Gestalt des Meisters gewesen: der nur als ferne, ehrwürdig halbgöttliche Figur gekannte Musikmeister, ein Erzengel aus dem obersten der Himmel, war leibhaftig erschienen, hatte allwissende blaue Augen gehabt, hatte auf einem Stühlchen am Übungsklavier gesessen, hatte mit Josef musiziert, wunderbar musiziert, hatte ihm beinahe ohne Worte gezeigt, was eigentlich Musik sei, hatte ihn gesegnet und war wieder verschwunden. Was alles daraus vielleicht folgen und sich ergeben könne, darüber nachzusinnen war Knecht vor
erst gar nicht fähig, weil er vom unmittelbaren, inneren Nachhall des Ereignisses viel zu sehr erfüllt und beschäftigt war. Wie eine junge Pflanze, die bisher still und zögernd sich entwickelte, plötzlich heftiger zu atmen und zu wachsen beginnt, als sei ihr in einer Stunde des Wunders mit einemmal das Gesetz ihrer Gestalt bewußt geworden und sie strebe nun innig nach seiner Erfüllung, so begann der Knabe, nachdem ihn die Hand des Zauberers berührt, rasch und sehnlich seine Kräfte zu sammeln und anzuspannen, fühlte sich verändert, fühlte sich wachsen, fühlte neue Spannungen, neue Harmonien zwischen sich und der Welt, konnte zu manchen Stunden in der Musik, im Latein, in der Mathematik Aufgaben bewältigen, die seinem Alter und seinen Kameraden noch fernlagen, und sich dabei zu jeder Leistung fähig fühlen, und konnte in anderen Stunden alles vergessen und mit einer ihm neuen Weichheit und Hingabe träumen, dem Wind oder Regen zuhören, in eine Blume oder ins ziehende Flußwasser starren, nichts begreifend, alles ahnend, hingenommen von Sympathie, von Neugierde, von Verstehenwollen, fortgezogen vom eigenen Ich zum anderen, zur Welt, zum Geheimnis und Sakrament, zum schmerzlich-schönen Spiel der Erscheinungen.
    So von innen beginnend und wachsend bis zur Begegnung und Bestätigung des Innen und Außen vollzog sich die Berufung bei Josef Knecht in vollkom
mener Reinheit; er hat alle ihre Stufen durchlaufen, alle ihre Beglückungen und alle ihre Beängstigungen gekostet. Ungestört durch plötzliche Enthüllungen und Indiskretionen vollzog sich der edle Vorgang, die typische Jugend- und Vorgeschichte jedes edlen Geistes; harmonisch und gleichmäßig arbeiteten und wuchsen das Innen und das Außen einander entgegen. Als, am Ende dieser Entwicklungen,

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