Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften
der Übergang für alle jene Schüler, die in ihrem Elternhaus glücklich und geliebt waren, ein sehr schwerer Abschied und Verzicht, und so kommt denn auch, namentlich während der beiden ersten Elitejahre, eine nicht unbeträchtliche Zahl von Rückversetzungen vor, deren Grund nicht ein Mangel an Begabung und Fleiß, sondern die Unfähigkeit der Schüler ist, sich mit dem Internatsleben und vor allem mit dem Gedanken zu versöhnen, künftig die Verbindung mit Familie und Heimat immer mehr zu lösen und schließlich keine andre Zugehörigkeit mehr zu kennen und zu respektieren als die zum Orden. Dann gibt es je und je auch Schüler, welchen umgekehrt gerade das Loskommen vom Vaterhaus
und von einer ihnen entleideten Schule die Hauptsache bei ihrer Aufnahme in die Elite war; diese, etwa von einem strengen Vater oder einem ihnen unangenehmen Lehrer befreit, atmeten zwar eine Weile auf, hatten sich aber von dem Wechsel so große und unmögliche Veränderungen ihres ganzen Lebens versprochen, daß bald eine Enttäuschung kam. Auch die eigentlichen Streber und Musterschüler, die Pedantischen, konnten sich in Kastalien nicht immer halten; nicht daß sie den Studien nicht wären gewachsen gewesen, aber es kam in der Elite eben nicht allein auf die Studien und Fachzeugnisse an, sondern es wurden auch erzieherische und musische Ziele angestrebt, vor welchen dieser und jener die Waffen streckte. Immerhin war in dem System der vier großen Eliteschulen mit ihren zahlreichen Unterabteilungen und Zweiganstalten Raum für vielerlei Begabungen, und ein strebsamer Mathematiker oder Philologe, wenn er wirklich das Zeug zu einem Gelehrten in sich hatte, brauchte etwa einen Mangel an musikalischer oder philosophischer Begabung nicht als Gefahr zu empfinden. Es gab zuzeiten sogar in Kastalien sehr starke Tendenzen zur Pflege der reinen, nüchternen Fachwissenschaften, und die Vorkämpfer dieser Tendenzen waren nicht nur gegen die »Phantasten«, das heißt gegen die Musikalischen und Musischen, kritisch und spottlustig gestimmt, sondern haben zuzeiten innerhalb ihrer Kreise alles
Musische, und namentlich das Glasperlenspiel, geradezu abgeschworen und verpönt.
Da Knechts Leben, soweit es uns bekannt ist, sich ganz in Kastalien abspielte, in jenem stillsten und heitersten Bezirk unseres gebirgigen Landes, den man früher mit einem Ausdruck des Dichters Goethe oft auch »die pädagogische Provinz« genannt hat, wollen wir in aller Kürze und auf die Gefahr hin, den Leser mit Längstgewußtem zu langweilen, nochmals dies berühmte Kastalien und die Struktur seiner Schulen skizzieren. Diese Schulen, kurz die Eliteschulen genannt, sind ein weises und elastisches Aussiebesystem, durch welches die Leitung (ein sogenannter »Studienrat« mit zwanzig Räten, deren zehn die Erziehungsbehörde, zehn den Orden vertreten) ihre Auswahl an besten Begabungen aus allen Teilen und Schulen des Landes zum Nachwuchs für den Orden und für alle wichtigen Ämter des Erziehungs- und Studienwesens heranzieht. Die vielen Normalschulen, Gymnasien und so weiter des Landes, sei ihr Charakter nun ein humanistischer oder ein naturwissenschaftlich-technischer, sind für mehr als neunzig vom Hundert unsrer studierenden Jugend Vorbereitungsschulen für die sogenannten freien Berufe, sie enden mit der Reifeprüfung zur Hochschule, und dort, an der Hochschule, wird sodann ein bestimmter Studiengang für jedes Fach absolviert. Dies ist der normale, jedem bekannte Lehrgang unsrer
Studierenden, diese Schulen stellen leidlich strenge Anforderungen und scheiden die Unbegabten nach Möglichkeit aus. Neben oder über diesen Schulen aber läuft das System der Eliteschulen, in welche nur die an Begabung und Charakter hervorragendsten Schüler probeweise aufgenommen werden. Den Zugang zu ihnen bilden nicht Prüfungen, sondern die Eliteschüler werden von ihren Lehrern nach deren freiem Ermessen ausgewählt und den Behörden von Kastalien empfohlen. Es wird etwa einem Elf- oder Zwölfjährigen eines Tages von seinem Lehrer bedeutet, er könne im nächsten Halbjahr in eine der kastalischen Schulen eintreten und möge sich prüfen, ob er sich dazu berufen und gezogen fühle. Sagt er nach Ablauf der Bedenkzeit ja, wozu auch das bedingungslose Einverständnis beider Eltern gehört, so nimmt eine der Eliteschulen ihn auf Probe auf. Die Leiter und obersten Lehrer dieser Eliteschulen (nicht etwa die Universitätslehrer) bilden die »Erziehungsbehörde«, diese hat die Leitung alles
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