Das Glasperlenspiel - Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften
Studienzeit auf nicht wieder auszufüllende Lücken in seiner Vorbildung stößt; vor diesen Mißständen schützt ihn die kastalische Ordnung. Auch die Gefahr, sich an Frauen oder an sportliche Exzesse zu verschwenden, ist nicht eben groß. Was die Frauen betrifft, so kennt der kastalische Student weder die Ehe mit ihren Verlockungen und Gefahren, noch kennt er die Prüderie mancher vergangenen Epoche, welche den Studenten entweder zu geschlechtlicher Askese zwang oder ihn auf mehr oder weniger käufliche und dirnenhafte Weiber anwies. Da es für die Kastalier keine Ehe gibt, gibt es auch keine auf die Ehe hin gerichtete Liebesmoral. Da es für den Kastalier kein Geld und so gut wie kein Eigentum gibt, existiert auch die Käuflichkeit der Liebe nicht. Es ist in der Provinz Sitte, daß die Bürgertöchter nicht allzu früh heiraten, und in den Jahren vor
der Ehe scheint ihnen der Student und Gelehrte als Geliebter ganz besonders begehrenswert; er fragt nicht nach Herkunft und Vermögen, ist gewohnt, geistige Fähigkeiten den vitalen mindestens gleichzustellen, hat meistens Phantasie und Humor und muß, da er kein Geld hat, mehr als andre mit dem Einsatz seiner selbst bezahlen. Die Studentenliebste in Kastalien kennt die Frage nicht: wird er mich heiraten? Nein, er wird sie nicht heiraten. Zwar ist tatsächlich auch dies schon geschehen; es hat sich je und je der seltene Fall ereignet, daß ein Elitestudent auf dem Weg der Heirat in die bürgerliche Welt zurückkehrte, unter Verzicht auf Kastalien und die Zugehörigkeit zum Orden. Doch spielen diese paar Fälle von Abtrünnigwerden in der Geschichte der Schulen und des Ordens kaum eine andre Rolle als die einer Kuriosität.
Der Grad an Freiheit und Selbstbestimmung, mit welchem der Eliteschüler nach der Entlassung aus den vorbereitenden Schulen sich allen Wissens- und Forschungsgebieten gegenübergestellt findet, ist in der Tat ein sehr hoher. Eingeschränkt wird diese Freiheit, soweit nicht die Begabungen und Interessen von Anfang an engere sind, lediglich durch die Verpflichtung jedes frei Studierenden zur Vorlage eines Studienplanes jeweils für ein Halbjahr, dessen Durchführung von den Behörden milde überwacht wird. Für die vielseitig Begabten und Interessierten – und zu
ihnen gehörte Knecht – haben die paar ersten Studienjahre durch diese sehr weitgehende Freiheit etwas wunderbar Verlockendes und Entzückendes. Gerade diesen vielseitig Interessierten läßt die Behörde, wenn sie nicht etwa geradezu ins Bummeln geraten, eine beinahe paradiesische Freiheit; der Schüler mag nach Belieben sich in allen Wissenschaften umsehen, die verschiedensten Studiengebiete miteinander vermischen, sich in sechs oder acht Wissenschaften gleichzeitig verlieben oder von Anfang an sich an eine engere Auswahl halten; außer der Innehaltung der allgemeinen, für Provinz und Orden geltenden moralischen Lebensregeln wird nichts von ihm verlangt als jährlich einmal der Ausweis über die von ihm gehörten Vorlesungen, über seine Lektüre und seine Arbeit in Instituten. Die genauere Kontrolle und Prüfung seiner Leistungen beginnt erst dort, wo er fachwissenschaftliche Kurse und Seminare besucht, zu welchen auch die des Glasperlenspiels und der Musikhochschule gehören; hier freilich hat jeder Studierende sich den offiziellen Prüfungen zu stellen und die vom Seminarleiter verlangten Arbeiten zu leisten, wie es sich von selbst versteht. Aber niemand zwingt ihn in diese Kurse, er kann semesterlang und jahrelang nach Belieben auch nur in den Bibliotheken sitzen und Vorlesungen hören. Diese Studenten, die mit der Bindung an ein einzelnes Wissensgebiet sich lange Zeit lassen, zögern zwar damit ihre Auf
nahme in den Orden hinaus, werden aber mit großer Duldung auf ihren Streifzügen durch alle möglichen Wissenschaften und Studienarten belassen, ja gefördert. Es wird von ihnen, außer dem moralischen Wohlverhalten, nichts an Leistung verlangt als jedes Jahr die Abfassung eines »Lebenslaufes«. Diese alte und oft bespöttelte Sitte ist es, der wir die drei während seiner Studienjahre geschriebenen Lebensläufe Knechts verdanken. Es handelt sich bei ihnen also nicht, wie bei den in Waldzell entstandenen Gedichten, um eine rein freiwillige und inoffizielle, ja heimliche und mehr oder weniger verbotene Art von literarischer Tätigkeit, sondern um eine normale und offizielle. Schon in den frühesten Zeiten der pädagogischen Provinz war die Sitte aufgekommen, die jüngern
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