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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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einen Blick auf den Weg, den sie hinter sich gebracht hatten, und standen in stummer Bewunderung vor diesem unermeßlichen Amphitheater, das bis zum Himmelsrand hinanstieg und über das sich wie über die Stufen eines Riesenwasserfalls Streifen von bläulichem Licht ergossen. Diese seltsame Pracht, diese ungeheure Apotheose stand da in der Unbeweglichkeit und dem Schweigen des Todes. Nichts kam ihr an überwältigender Größe gleich.
    Dann schauten die jungen Leute, die sich an das Brückengeländer gelehnt hatten, hinab. Unter ihnen floß mit dumpfem, ununterbrochenem Brausen die Viorne, die von Regengüssen angeschwollen war. Flußauf und flußab gewahrten sie inmitten der in der Tiefe gehäuften Schatten die schwarzen Reihen der Bäume, die an den Ufern wuchsen. Hier und dort stahl sich ein Mondenstrahl hinunter und legte über das Wasser eine Straße von geschmolzenem Zinn, die leuchtete und zitterte wie der Widerschein des Tageslichts auf den Schuppen eines lebenden Tieres. Mit geheimnisvollem Zauber liefen diese Lichter zwischen dem verschwommenen, schemenhaften Laubwerk den grauschimmernden Lauf des Flusses entlang. Das Tal war wie verzaubert, wie ein wundersamer Schlupfwinkel, wo ein ganzes Volk von Schatten und Lichtern ein seltsames Leben führte.
    Die beiden Liebenden kannten diesen Teil des Flusses sehr genau. Oft waren sie in heißen Julinächten hier hinuntergestiegen, um Kühlung zu suchen. Sie hatten lange Stunden verborgen unter den Weidenbüschen des rechten Ufers zugebracht, dort, wo die SainteClaireWiesen ihren Grasteppich bis an den Fluß hin aufrollen. Sie erinnerten sich an die geringsten Uferwindungen, an die einzelnen Steine, auf die man springen mußte, wollte man die Viorne überqueren, die zu jener Jahreszeit dünn wie ein Faden ist, und an gewisse Grasmulden, in denen sie ihre zärtlich verliebten Träume geträumt hatten. Deshalb schaute Miette mit Sehnsucht von der Brücke hinab nach dem rechten Flußufer hinüber.
    »Wenn es wärmer wäre«, seufzte sie, »könnten wir hinuntersteigen und uns ein wenig ausruhen, bevor wir den Abhang wieder hinaufgehen …« Nach einem kurzen Schweigen, die Augen immer noch auf die Ufer der Viorne geheftet, sprach sie weiter: »Sieh doch, Silvère, diese schwarze Masse da unten, vor der Schleuse … Erinnerst du dich? – Das ist das Gebüsch, in dem wir am letzten Fronleichnamsfest gesessen haben.«
    »Ja, das ist das Gebüsch«, antwortete Silvère leise.
    Hier hatten sie zum erstenmal gewagt, einander auf die Wangen zu küssen. Diese Erinnerung, die das Mädchen soeben heraufbeschworen hatte, weckte in ihnen beiden eine köstliche Empfindung, eine Erregung, in der sich die Freuden von gestern mit den Hoffnungen auf morgen mischten. Wie im Schein eines Blitzes tauchten vor ihnen die schönen, gemeinsam verbrachten Abende auf, besonders jener Fronleichnamsabend, den sie sich bis in alle Einzelheiten ins Gedächtnis zurückzurufen vermochten: der weite, sanfte Himmel, die Kühle unter den Weiden an der Viorne, die zärtlichen Worte ihres Geplauders. Und während Vergangenes mit süßer Lieblichkeit in ihren Herzen heraufstieg, glaubten sie schon die unbekannte Zukunft zu schauen; sie sahen sich Arm in Arm, ihr Traum hatte sich erfüllt, und sie schritten genauso durch das Leben, wie sie eben über die Landstraße gewandert waren, warm umfangen von einem einzigen Mantel. Darüber erfüllte die Verzückung sie von neuem, Auge in Auge lächelten sie einander zu, ganz versunken im schweigenden Mondlicht.
    Plötzlich richtete sich Silvère auf. Er befreite sich aus den Falten des Mantels und horchte. Überrascht tat Miette desgleichen, ohne zu begreifen, warum er sich mit solch heftiger Bewegung von ihr gelöst hatte.
    Seit kurzer Zeit drangen verworrene Laute hinter den Hügeln hervor, zwischen denen sich die Straße nach Nizza verliert. Es war wie das ferne Rumpeln eines Karrenzuges. Im übrigen übertönte das Brausen der Viorne diese noch undeutlichen Geräusche. Doch nach und nach hoben sie sich klarer hervor und ähnelten dem Marschtritt einer Armee. Dann konnte man in diesem ständigen, immer stärker anschwellenden Rollen das Getöse von Menschenstimmen unterscheiden, merkwürdig taktmäßige, rhythmische Windstöße eines Orkans; man hätte es für das Grollen eines schnell heraufziehenden Gewitters halten können, das schon bei seinem Nahen die schläfrige Luft in Aufruhr versetzt. Silvère lauschte, konnte aber diese Sturmstimmen, die von den

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