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Das Glück der Familie Rougon - 1

Das Glück der Familie Rougon - 1

Titel: Das Glück der Familie Rougon - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Frühjahr von selbst, indem er sich mit einer dunklen und dichten Pflanzendecke bezog. Dieser fette Boden, in den die Totengräber keinen Spatenstich mehr tun konnten, ohne einen Fetzen von einer Leiche aufzuwerfen, war von unheimlicher Fruchtbarkeit. Von der Straße aus sah man nach den Mairegen und der darauffolgenden Junihitze die Spitzen der Gräser über die Mauern ragen. Innen aber wogte ein tief grünes, unergründliches Meer, betupft mit großen Blüten von seltsamem Glanz. Darunter, im Schatten der enggedrängten Stengel, ahnte man das feuchte, von gärenden Säften durchtränkte Erdreich.
    Eine der Merkwürdigkeiten dieses Grundstücks waren damals Birnbäume mit verdrehten Ästen und ungeheuren Knorren. Keine Hausfrau von Plassans hätte die riesigen Birnen ernten mögen, in der ganzen Stadt verzog man vor Ekel das Gesicht, wenn man von diesen Früchten sprach. Aber die Vorstadtjungen waren nicht so wählerisch; sie kletterten abends in der Dämmerung in Scharen über das Gemäuer und stahlen die Birnen, sogar ehe sie reif waren.
    Bald hatte das üppige Leben der Gräser und Bäume alle Leichen in dem ehemaligen SaintMittre Friedhof aufgezehrt, gierig wurde alles, was vom Menschen verwest, von den Blumen und Früchten aufgesogen, und so kam es, daß man schließlich nur noch den durchdringenden Duft der wilden Levkojen verspürte, wenn man an dieser Faulgrube vorüberging. Das war das Werk weniger Sommer gewesen.
    Zu jener Zeit gedachte die Stadt aus diesem nutzlos schlummernden Gemeindeeigentum Gewinn zu ziehen. Man legte die Mauern längs der Straße und des Sackgäßchens nieder und riß das Gras und die Birnbäume aus. Dann wurde der Friedhof geräumt. Man durchwühlte mehrere Meter tief den Boden und häufte in einer Ecke die Gebeine auf, die die Erde noch zurückgeben wollte. Fast einen Monat lang schoben die Straßenjungen, die den Birnbäumen nachtrauerten, Kegel mit den Totenschädeln; eines Nachts hängten üble Spaßvögel an alle Klingelzüge der Stadt Schenkelknochen und Schienbeine. Dieses Ärgernis, dessen sich Plassans noch heute erinnert, hörte erst mit dem Tage auf, da man sich entschloß, den Knochenhaufen in eine tiefe Grube zu werfen, die auf dem neuen Friedhof dafür ausgeschachtet wurde. Aber in der Provinz geht alle Arbeit mit weiser Langsamkeit vonstatten, und so sahen die Einwohner eine ganze Woche lang dann und wann einen einsamen großen Karren vorüberziehen, der die menschlichen Überreste wegschaffte wie Bauschutt. Das schlimmste dabei war, daß dieser Karren Plassans in seiner ganzen Länge durchqueren mußte und er wegen des schlechten Straßenpflasters bei jedem Stoß Knochenstücke und einige Handvoll fetter Erde verstreute. Keine Spur von kirchlichen Zeremonien – eine langsame und rohe Verfrachtung. Niemals hat eine Stadt Ekelhafteres erleben müssen.
    Jahrelang blieb das Gelände des ehemaligen Saint MittreFriedhofs ein Anlaß allgemeinen Entsetzens. Allen und jedem zugänglich, am Rande einer Landstraße, lag es verödet da und fiel abermals dem Unkraut zur Beute. Die Stadt, die das Grundstück zweifellos gern verkauft hätte, um dort neue Häuser entstehen zu sehen, sollte keinen Abnehmer finden; vielleicht schreckte die Erinnerung an den Knochenhaufen und an jenen Karren, der mutterseelenallein mit der schwerfälligen Hartnäckigkeit eines Alptraums durch die Straßen hin und her gerumpelt war, die Leute ab; vielleicht erklärt sich die Tatsache mehr noch durch die Trägheit der Provinz, durch ihren Widerwillen gegen Zerstörung und Wiederaufbau. Wahr ist jedenfalls, daß die Stadt das Grundstück behielt, ja daß sie sogar ihre Absicht, es zu veräußern, schließlich vergaß. Sie ließ es nicht einmal einzäunen; jeder, der nur wollte, konnte es betreten. Und im Laufe der Jahre gewöhnte man sich nach und nach an diesen verödeten Winkel. Man setzte sich am Wegrand ins Gras, man lief kreuz und quer darüber, der Ort belebte sich. Als dann die Füße der Spaziergänger die Grasnarbe zerstört hatten und der festgetrampelte Boden grau und hart geworden war, glich der ehemalige Friedhof einem schlechtgeebneten öffentlichen Platz. Um noch gründlicher jede widerliche Erinnerung auszulöschen, kamen die Einwohner langsam und ohne es zu merken dazu, die Bezeichnung des Grundstücks zu ändern; man begnügte sich damit, den Namen des Heiligen beizubehalten, auf den man auch das Sackgäßchen taufte, das sich in einen Zipfel des Grundstücks hineinbohrte. So entstanden

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