DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL 1: Edition Nancy Salchow (German Edition)
den Tag, der sein ganzes Leben für immer verändern sollte. Nicht nur das Schicksal von Emma und somit auch seines, sondern das Schicksal von zwölf Menschen nahm an diesem bestimmten Datum eine grausame Wendung.
Es war der 13. September 2010.
*
"Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht, mein Junge."
Es gehörte zu ihrem ganz eigenen Charme, ihn zu siezen und im selben Atemzug ein "Mein Junge" hinterherzuschieben. Eine Eigenart, die er während seiner Abwesenheit beinahe vergessen hatte und die ihn nun an das wenig verbliebene Schöne seiner alten Heimat erinnerte. Frau Jäger. Die gute Seele der Nachbarschaft.
Er schob eine Tasse zu ihr hinüber und setzte sich an den Küchentisch.
"Das hätte ich doch auch machen können."
"Es ist nur eine Tasse Tee, Frau Jäger. Den bekomme ich schon noch alleine hin", antwortete er. "Und überhaupt haben Sie schon mehr als genug getan."
Sie musterte ihn mütterlich. "Nicht genug, mein Junge. Nicht genug."
Ihr mitfühlender Blick ähnelte dem seiner Schwester. In ihren hellgrauen Augen erkannte er noch immer dieselbe Sorge, dasselbe wortlose Mitleiden, das sich ihm bei der ersten Begegnung nach dem tragischen Ereignis dargeboten hatte. Sie redete viel, ohne gewisse Dinge auszusprechen - ein Taktgefühl, das er bei vielen seiner Nachbarn in den schlimmen ersten Tagen vermisst hatte. Und einer der Gründe, warum er jede Hilfe von Frau Jäger ohne Zögern angenommen hatte.
"Ich komme zurecht, Frau Jäger. Wirklich. Außerdem wird es Zeit, dass ich mich wieder dem Alltag stelle. Und dazu gehört unter Umständen eben auch, eine Tasse Tee zu kochen."
Er lächelte. Ein Lächeln, das sie nur zaghaft erwiderte, während sie ihre faltige Hand auf seine legte.
Er fragte sich, wie alt sie wohl war. Eine Frage, die er sich oft gestellt, aber anstandshalber nie ausgesprochen hatte. Mitte Sechzig? Bereits über Siebzig? Ihr Haar, im selben Grau wie ihre Augen, hatte sie zu einem engen Dutt gebunden. Über dem hellblauen knielangen Kleid, das ihre breiten Hüften umschloss, trug sie eine Strickjacke in undefinierbarer Farbe. Simon wusste, dass sie alleine lebte, aber zum ersten Mal seit seinem Einzug in die Kastanienallee und ihrer ersten Begegnung vor sechs Jahren fragte er sich, ob auch sie möglicherweise einen Verlust zu verschmerzen hatte. Vor Jahren vielleicht.
"Ich habe Lammbraten gemacht", sagte sie. "Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen zum Abendessen ein bisschen vorbeibringen."
"Das ist wirklich sehr nett, aber …"
"Das Aber können Sie gleich wieder aus Ihrem Wortschatz streichen, mein Junge. Wenigstens essen müssen Sie richtig, wenn Sie schon nicht arbeiten."
"Oh, ich arbeite", widersprach er. "Auch schon in den letzten Monaten, als ich noch bei meiner Schwester gewohnt habe. Wozu gibt es das Internet, Telefon und die Post?"
"Das freut mich." Die Sorge in ihrem Blick wich Erleichterung. "Und wer gut arbeitet, muss auch gut essen."
"Das ist aber wirklich nicht nötig."
"Und ob es das ist", antwortete sie, und ihr Tonfall machte unmissverständlich klar, dass sie keinen weiteren Widerspruch duldete.
Simon lehnte sich zurück und umschloss seine Tasse mit beiden Händen. Vielleicht war es doch keine schlechte Idee, sich ihrer charmanten Diktatur zu unterwerfen. Lammbraten zum Abendessen, die Übersetzung des neunten Kapitels von Clara Haiges und vielleicht ein Glas Whiskey vor dem Schlafengehen. Irgendwie würde ihm das mit der Ablenkung schon gelingen. Zumindest für heute.
*
Er fragte sich, ob die mangelnde Begeisterungsfähigkeit für das Manuskript vor ihm tatsächlich den Leistungen der Autorin oder seiner eigenen emotionslosen Verfassung zuzuschreiben war. Er erinnerte sich an die Übersetzung ihres letzten Werkes und den Tatendrang, mit dem er damals an die Arbeit gegangen war. Eine Euphorie, die ihm jetzt nur noch wie eine blasse Kopie seiner eigenen Persönlichkeit erschien.
Ohne Zweifel, es musste an ihm liegen. Clara Haiges war eine Könnerin. Eine Schande, dies auch nur in Frage zu stellen.
Die Buchstaben auf dem Bildschirm vor ihm verloren an Kontur, bevor er sich erneut disziplinieren konnte. Er schaute auf die Uhr. Kurz nach Mitternacht. Vielleicht war es an der Zeit, sich schlafen zu legen. Die zweite Nacht in seinem Bett. Und vielleicht die erste, in der er es wenigstens zu ein paar Stunden Schlaf bringen würde.
Rechts neben der Tastatur entdeckte er das Buch. Welch seltsame Idee, es mit ins Arbeitszimmer zu nehmen. Und doch ließ ihn der Drang
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