Das Glück mit dir (German Edition)
einzige Fenster im Raum geht auf einen Hof hinaus, in dem Wäsche hängt, ein paar Töpfe mit Geranien stehen und ein altes Kinderfahrrad herumliegt. Die Hotels riechen gewöhnlich nach Weißkraut oder nach Blumenkohl – chou-fleur .
Chou-fleur , wiederholt sie bei sich. Sie mag den Klang des Wortes.
In ihrer Vorstellung sind Philip und sie immer im Bett.
Oder beim Essen.
Während des Abendessens in einem Restaurant, bei entrecôtes – saignante für ihn, à point für sie –, bei frites und einem Krug Rotwein, erzählt Philip von seinem Kurs an der École Polytechnique, darüber, was er lehrt – nombres premiers, nombres parfaits, nombres amiables .
Erklär mir, was das ist, sagt sie zwischen zwei Bissen. Sie hat ständig Hunger. Heißhunger fast.
Das habe ich doch schon, sagt er und schenkt ihr Wein nach. Du hast nicht zugehört.
Erzähl mir noch mal von denen, die ich so mag, den befreundeten Zahlen.
Befreundete Zahlen sind Zahlenpaare, von denen wechselseitig jeweils eine Zahl gleich der Summe der echten Teiler der anderen Zahl ist. 220 und 284 sind das kleinste Paar befreundeter Zahlen, und die echten Teiler von 220 sind – Philip schließt die Augen – 1, 2, 4, 5, 10, 11, 20, 22, 44, 55 und 110, addiert ergeben sie 284, und die echten Teiler von 284 sind 1, 2, 4, 71 und 142, addiert ergeben sie 220 – verstehst du?
Wahnsinn, so etwas rauszufinden, sagt sie und schwenkt eine Gabel voll frites in der Luft.
Wer hat das gemacht?
Thabit ibn Qurrah, ein arabischer Mathematiker des neunzehnten Jahrhunderts.
Wie viele befreundete Zahlenpaare gibt es?
Das weiß niemand.
Und dann gibt es noch die vollkommenen Zahlen – 6 ist eine vollkommene Zahl. Die Teiler von 6 sind 1, 2 und 3, ergibt zusammen 6.
Aber sie hört schon nicht mehr zu. Vollkommenheit interessiert sie weniger.
Möchtest du Nachtisch?, fragt sie. Die crème caramel oder die tarte aux poires ?
Sie erzählt ihm, dass sie lieber als alles andere in der Welt malen möchte. Malen wie ihr Lieblingskünstler Richard Diebenkorn.
Seine Stillleben und figurativen Werke.
Kennst du seine Arbeiten?
Philip schüttelt den Kopf.
Irgendwann zeige ich sie dir.
Sie streiten, aber ohne Groll, sie diskutieren und tauschen Gedanken aus. Beide fühlen sich vom Abstrakten angezogen. Manchmal vergisst sie, dass sie Philip nicht schon ihr Leben lang oder zumindest seit Jahren kennt.
Es war eine glückliche Zeit, und im Herbst heirateten sie.
Mehr als zehn Prozent der Gedanken, die einem Menschen am Tag durch den Kopf gehen, betreffen die Zukunft, das zumindest hat sie gehört. In durchschnittlich acht Tagesstunden verbringt der Mensch mindestens eine Stunde damit, über Dinge nachzudenken, die noch nicht eingetreten sind. Für sie soll das nicht gelten. Sie hat kein Bedürfnis, über die Zukunft nachzudenken. Für sie existiert die Zukunft nicht; Zukunft ist für sie ein absurdes Konzept.
Sie denkt lieber an die Vergangenheit. Gestern zum Beispiel. Sie versucht sich zu erinnern, was sie und Philip gestern getan haben. Was sie gesagt haben. Was sie gegessen haben.
Wann hat sie zuletzt mit Louise gesprochen? Louise hat am Telefon von ihrer Arbeit bei einem Internet-Start-up-Unternehmen erzählt – eine Beförderung, eine Gehaltserhöhung, Grund zum Feiern. Feiert sie vielleicht gerade jetzt bei ihrem Lieblingsjapaner? Nina stellt sich vor, wie Louise aufgeregt auf den jungen Mann einredet, der ihr gegenübersitzt, und gleichzeitig mit denStäbchen geschickt teuren rohen Fisch aufnimmt und sich in den Mund steckt.
Drei Wochen vor dem erwarteten Geburtstermin – Philip ist auf einer Konferenz in Miami – wacht Nina, allein im zweiten Stock der Wohnung in Somerville, von den einsetzenden Wehen auf. Sie zieht sich hastig an, kramt ein paar Sachen zusammen und ruft ein Taxi. In der Taxizentrale hebt niemand ab. Sie versucht, den Abstand zwischen den Wehen zu bestimmen, aber kaum hat sie sich von der einen erholt, setzt schon die nächste ein. Sie macht noch einen Versuch, ein Taxi zu rufen, aber wieder meldet sich niemand. Sie wählt 911. Erst jetzt bemerkt sie, dass es schneit. Flocken treiben in großen Wirbeln umher, decken die geparkten Autos und Bäume zu und verdunkeln die Straße. Sie zieht ihren Mantel an, schnappt ihre Tasche und steigt die Treppe hinunter. Einmal strauchelt sie und fällt mehrere Stufen hinab. In einer Wohnung weiter unten bellt ein Hund und jemand schimpft: Schnauze, Mistvieh . Halb aus Angst, es könnte jemand, wer auch
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