Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde (German Edition)
Einleitung: Würde als Lebensform
Philosophie, wie ich sie verstehe, ist der Versuch, begriffliches Licht in wichtige Erfahrungen des menschlichen Lebens zu bringen. Um über diese Erfahrungen nachdenken und sprechen zu können, haben wir Begriffe erfunden, die uns in gewöhnlichen Zusammenhängen als etwas Selbstverständliches zur Verfügung stehen. Doch manchmal geschieht es, daß wir genauer wissen möchten, wovon wir eigentlich reden, weil Wichtiges auf dem Spiel steht, sowohl im Verstehen als auch im Handeln. Wenn wir dann einen Schritt hinter die sprachliche Gewohnheit zurücktreten und uns auf den Begriff konzentrieren, stellen wir verwirrt fest, daß uns gar nicht klar war, was wir da die ganze Zeit gesagt hatten. Der Begriff erscheint uns plötzlich fremd und rätselhaft.
So kann es uns mit dem Begriff der Würde gehen. Die Würde des Menschen – das ist etwas Wichtiges und etwas, was nicht angetastet werden darf. Doch was ist es eigentlich? Was ist es genau ? Wenn wir versuchen, hier Klarheit zu gewinnen, können wir zwei verschiedene gedankliche Wege gehen. Der eine ist der Weg, auf dem wir Würde als eine Eigenschaft von Menschen auffassen – als etwas, was sie kraft der Tatsache besitzen, daß sie Menschen sind. Es gilt dann, die Natur dieser Eigenschaft zu verstehen. Man wird sie nicht als eine natürliche, sinnliche Eigenschaft verstehen wollen. Eher als eine außergewöhnliche Art von Eigenschaft, die den Charakter eines Anrechts hat: des Anrechts, auf eine bestimmte Art und Weise geachtet und behandelt zu werden. Man würde es als ein Anrecht verstehen, das jedem Menschen innewohnt, das er in sich trägt und das man ihm nicht nehmen kann, ganz gleich, was man ihm an schrecklichen Dingen zufügen mag. Es gibt Lesarten dieses Anrechts, die es auf die Beziehung zu Gott als unserem Schöpfer zurückführen und es aus dieser Beziehung verständlich zu machen suchen.
Ich bin in diesem Buch einen anderen Weg gegangen und habe eine andere Perspektive eingenommen. Die Würde des Menschen, so wie ich sie hier verstehe und bespreche, ist eine bestimmte Art und Weise, ein menschliches Leben zu leben. Sie ist ein Muster des Denkens, Erlebens und Tuns. Diese Würde zu verstehen, heißt, sich dieses Muster begrifflich zu vergegenwärtigen und es gedanklich nachzuzeichnen. Dazu braucht man keinen Blick auf ein metaphysisches Verständnis der Welt. Was man braucht, ist der wache und genaue Blick auf die vielfältigen Erfahrungen, die wir mit dem Begriff der Würde einzufangen suchen. Es geht darum, all diese Erfahrungen in ihren Einzelheiten zu verstehen und sich zu fragen, wie sie zusammenhängen. Es geht darum, den intuitiven Gehalt der Würdeerfahrung auszuschöpfen.
An der Lebensform der Würde kann man drei Dimensionen unterscheiden. Die eine ist die Art, wie ich von den anderen Menschen behandelt werde. Ich kann von ihnen so behandelt werden, daß meine Würde gewahrt bleibt, und sie können mich so behandeln, daß meine Würde zerstört wird. Hier ist die Würde also etwas, über das andere bestimmen. Um mir diese Dimension zu vergegenwärtigen, habe ich mir die Frage gestellt: Was alles kann man jemandem wegnehmen, wenn man seine Würde zerstören will? Oder auch: Was darf man jemandem auf keinen Fall wegnehmen, wenn man seine Würde schützen will? Auf diese Weise erhält man eine Übersicht über die vielen Facetten der Würde, sofern sie von anderen abhängt, und man kann sich verdeutlichen, wie diese Facetten miteinander verknüpft sind.
Die zweite Dimension betrifft wiederum die anderen Menschen, mit denen ich zusammenlebe. Doch dieses Mal geht es nicht darum, wie sie mich behandeln. Es geht darum, wie ich sie behandle, und, weiter gefaßt, wie ich zu ihnen stehe: was für eine Einstellung ich zu ihnen habe. Es geht darum, wie sie, von mir aus betrachtet, in meinem Leben vorkommen. Jetzt ist die Würde etwas, über das nicht andere bestimmen, sondern ich selbst. Die leitende Frage lautet: Welche Muster des Tuns und Erlebens den anderen gegenüber führt zu der Erfahrung, daß ich mir meine Würde bewahre , und mit welchem Tun und Erleben verspiele ich sie? In der ersten Dimension liegt die Verantwortung für meine Würde bei den anderen: Es ist ihr Tun, das meine Würde bewahrt oder zerstört. In dieser zweiten Dimension liegt die Verantwortung ganz allein bei mir: Ich selbst habe es in der Hand, ob mir ein Leben in Würde gelingt oder nicht.
Auch in der dritten Dimension bin ich selbst es,
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