Das Glück mit dir (German Edition)
und ich antworte: ›Stimmt, meine ältere Tochter heißt Louise.‹ Nun stellt sich die Frage, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass mein zweites Kind auch ein Mädchen ist? Die Antwort ist einfach. Die Wahrscheinlichkeit beträgt 1 zu 2. Aber angenommen, ich variiere die Frage ein bisschen und mein alter Freund weiß nicht, ob Louise die Ältere ist oder nicht, und er fragt einfach: ›Ich höre, eines deiner Kinder ist ein Mädchen‹ – dann beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass beide Kinder Mädchen sind, 1 zu 3.«
Mit einem Eimerchen in der Hand watet Louise vorsichtig ins Meer. Sie ist drei oder vier Jahre alt und nackt.
Wo sind sie? Auf Belle-Île?
Eine Welle strudelt um ihre stämmigen kleinen Beine, und Louise lässt ihr Eimerchen fallen und läuft rasch zurück aufs Trockene.
Nina und Philip liegen ein paar Meter weiter auf ihren Handtüchern und sehen ihr zu.
Philip steht auf, rennt zum Wasser und rettet das Eimerchen für Louise, die sich zu ihnen umgedreht hat, das Gesicht zum Weinen verzogen.
Schnell nimmt Philip Louise auf den Arm und geht mit ihr ins Wasser.
Von ihrem Platz aus winkt Nina ihnen zu, aber sie schauen gar nicht zu ihr hin.
Hüfttief im Wasser stehend, die Wellen brechen sich an ihm, hebt Philip Louise hoch in die Luft, so dass sie nicht nass wird, und singt ihr vor:
Pi, pi, find the value of pi
Twice eleven over seven is a mighty fine try
A good old fraction you may hope to supply
But the decimal never dies
The decimal never dies
Louise klammert sich an ihn, kreischend vor Angst und Vergnügen, ihre speckigen Ärmchen um seinen Hals geschlungen.
Ein Glück, dass Louise auf der Welt ist.
Nina, die ihnen zusieht, ist eifersüchtig auf ihre Tochter.
»Von bedingter Wahrscheinlichkeit spricht man, wenn ein bestimmtes Ereignis bekannt ist und sich durch neue relevante Informationen die Wahrscheinlichkeit des Eintretens eines Ereignisses verändert. Wenn also mein alter Freund mich fragen würde: ›Ich höre, eines deiner Kinder ist ein Mädchen und wurde an einem Mittwoch geboren …‹«
Nachdem sie die Unterhose ausgezogen und ihren Rock hochgeschoben hat, legt sie sich auf ein Gummilaken,das sich an ihrem Hintern kalt und klamm anfühlt und das als Überzug für ein – genau hinzusehen wagt sie nicht – offenbar ziemlich wackliges Feldbett dient.
Der Mann trägt über dem Hemd eine dunkle Weste. Er hat Gummihandschuhe an – solche, wie man sie beim Geschirrspülen benutzt. Bei ihm ist eine Frau. Sie trägt einen gelben Strickpullover und nickt Nina geistesabwesend zu.
Der Mann und die Frau sprechen in einer fremden Sprache miteinander.
Arabisch, denkt Nina.
Sie schließt die Augen.
Wahrscheinlich sind der Mann und die Frau aus Algerien, vermutet sie.
Pieds noirs .
Barfuß sind, so heißt es, sephardische Juden aus Spanien geflohen, um sich in Algerien niederzulassen, und Nina versucht sich vorzustellen, wie sie über das Wasser von einem Kontinent zum anderen gehen.
Sie hört Instrumente in einer Metallschale klirren.
Der Mann sagt etwas zu ihr und spreizt ihre Beine noch weiter.
Sie lässt die Augen geschlossen.
Die Frau in dem gelben Pullover, so vermutet sie, reicht ihm die Instrumente.
OAS – Organisation de l’Armée Secrète –, sie hat gehört, wie Didier und sein Bruder Arnaud sich beim Sonntagsessen bei Tante Thea über die rechte Untergrundorganisation unterhielten.
Ich bin nicht für die Unabhängigkeit Algeriens, erklärt Didier, während er die gigot tranchiert, aber die Methoden der OAS gefallen mir auch nicht. Diese Foltergeschichten.
Die FLN ist auch nicht besser, sagt Arnaud. Front de Libération Nationale, erklärt er für Tante Thea, seine Mutter.
Ich weiß, entgegnet Tante Thea scharf. Ich lese schließlich Zeitung.
Einem Kollegen von mir hat man eine Rohrbombe nach Hause geschickt. Zum Glück ist sie nicht hochgegangen. Seine Frau und seine Kinder hätten sterben können. Meins bitte bleu , wenn es geht, sagt Arnaud außerdem zu Didier, er meint das Fleisch.
Einer meiner Studenten an der École Polytechnique, sagt Philip, ein pied-noir , hat mir erzählt, dass sie Algerier mit auf dem Rücken gefesselten Händen in die Seine werfen, so dass sie ertrinken.
Nina reicht die Platten mit dem aufgeschnittenen gigot herum. Beim Anblick des halb rohen Fleisches, das sie in der Hand hält, wird ihr übel.
Ich habe Sie über den Hof kommen sehen, sagt Farid, Philips Student an der École Polytechnique, zu Philip. Zuerst habe
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