Das Glück mit dir (German Edition)
Damit er nicht aufwacht? Sie greift nach dem Hörer, doch da bricht das Läuten unvermittelt ab. Auch gut. Sie wird warten bis zum Morgen. Am Morgen wird sie telefonieren, E-Mails schreiben, alles organisieren: die Sterbeurkunde, das Beerdigungsinstitut, die Trauerfeier – was eben so getan werden muss. Heute Nacht – heute Nacht will sie gar nichts tun.
Sie will allein sein.
Allein mit Philip.
Sie ist nicht religiös.
Sie glaubt nicht an ein Leben nach dem Tod, an Seelenwanderung, an Reinkarnation, an nichts von alledem.
Er schon.
Ich glaube nicht an Reinkarnation und all dieses Zeug, und ich gehe nicht in die Kirche, aber an Gott glaube ich schon, erklärt er ihr.
Wo waren sie damals?
Sie schlendern Hand in Hand bei Nacht die Quais entlang, bleiben auch mal stehen, um nach Nôtre-Dame hinüberzusehen.
Ich dachte immer, Mathematiker glauben nicht an Gott, sagt sie.
Mathematiker schließen die Vorstellung, dass es einen Gott gibt, nicht unbedingt aus, antwortet Philip.Und manche haben vielleicht eine etwas abstraktere Gottesvorstellung als im Christentum gewöhnlich üblich.
Zu ihren Füßen fließt schwarz und schnell der Fluss dahin, und sie fröstelt ein wenig in ihrer ledernen Fliegerjacke.
Ich halte es da mit Pascal, fährt Philip fort, es ist einfach sicherer, an Gottes Existenz zu glauben, als zu glauben, dass er nicht existiert. Kopf: Gott existiert und ich gewinne und komme in den Himmel – Philip macht eine Armbewegung, als würde er eine Münze in die Luft werfen – Zahl: Gott existiert nicht und ich habe nichts verloren.
Eine Wette also, sagt sie stirnrunzelnd. Dein Glaube gründet auf falschen Motiven, nicht auf religiöser Überzeugung.
Ganz und gar nicht, antwortet Philip, mein Glaube beruht auf der Tatsache, dass Vernunft nutzlos ist, wenn es darum geht, zu entscheiden, ob es einen Gott gibt. Sonst wäre es keine Wette mehr.
Dann beugt er sich herunter und küsst sie.
Philip liegt auf dem Rücken, die Augen geschlossen. Sein Kopf ruht auf dem Kissen, und sie hat die Decke mit dem rot-weißen Rautenmuster über ihn gebreitet. Es könnte sein, dass er schläft. Das Zimmer, dominiert von dem mit Schnitzereien verzierten Mahagoni-Himmelbett, ist aufgeräumt und vertraut. Ihm gegenüber stehen zwei Stühle, über der Lehne des einen hängt ihr beiger Kaschmirpullover; zwischen den Stühlen steht ein Sekretär aus Walnussholz, darauf eine Reihe vonFamilienfotos in Silberrahmen – Louise als Baby, Louise mit neun oder zehn Jahren, als Schwarzer Schwan in der Schulaufführung von Schwanensee , Louise mit ihrem Hund im Arm. Szenenwechsel, Louise beim Schulabschluss, Louise und Philip beim Segeln, Louise, Philip und Nina beim Reiten auf einer Ferienranch in Montana, Louise und Nina beim Skifahren in Utah. Auf dem Sekretär steht auch die Lackschatulle, in der sie einen Teil ihres Schmucks aufbewahrt. Die wertvollen Schmuckstücke – eine Diamant-Anstecknadel in Blütenform, eine dreireihige Perlenkette, ein Siegelring mit einem Rubin – befinden sich in dem mit Zahlenschloss gesicherten Safe im Einbauschrank im Flur. Sie schließt die Augen und versucht sich an die Kombination zu erinnern: drei komplette Drehungen nach links bis zur 17, zwei nach rechts bis zur 4, und wieder eine links bis zur 11, oder ist es umgekehrt? Egal, sie wird den Safe sowieso nie öffnen können; das muss Philip machen. Und neben der Lackschatulle mit dem Schmuck die blaugrüne Tonschüssel, die Louise in der dritten Klasse für sie getöpfert hat und in der Philip jeden Abend sein Kleingeld deponiert. Die Schranktüren sind geschlossen, nur die Tür zum Bad ist angelehnt.
Wann ist eine Tür keine Tür? Wenn sie …
Stopp.
Vielleicht sollte sie ihr Nachthemd anziehen und sich neben ihn legen, und am Morgen, wenn er aufwacht, wird er den Arm zu ihr herüberstrecken, wie er das immer macht. Er wird ihr Nachthemd hochschieben. Zieh es aus, wird er sagen. Er liebt den Sex am Morgen. Wenn sie noch schläfrig ist, braucht sie länger.
Sie hat sich nicht die Mühe gemacht, die Vorhänge zuzuziehen. Draußen kann sie über den schwankenden Ästen ein paar Sterne am Nachthimmel ausmachen. Bloß ein Dutzend in einer Galaxie von einer Milliarde oder Billion von Sternen. Vielleicht ist der Tod, denkt sie, wie einer dieser Sterne – ein Stern, der nur gesehen wird, wenn er schon nicht mehr existiert, und davor unbeobachtbar ist. Während das Leben, so hat sie gehört, aus den Sternen entstanden ist – aus
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