Das Gluehende Grab
beugte er sich wieder zu ihr. »Markús ist
zufrieden, und so ist es am besten. Hier auf den
Westmännerinseln haben alle Verständnis. Ich glaube, ich
musste Vater noch nie so oft Grüße ausrichten wie jetzt,
seit sich die Sache herumgesprochen hat.« Dóra nickte
und murmelte, das sei ja schön. »Ein Prosit auf die
Anwältin!«, rief Leifur durchs ganze Zelt, und alle
hoben ihre Gläser.
Markús
stimmte enthusiastisch mit ein und lächelte Dóra
genauso verschwörerisch an wie sein älterer Bruder. Das
Ausreiseverbot lief ab, und es sah nicht so aus, als würde es
verlängert. Markús legte den Arm um seinen
Platznachbarn und drückte ihn. Es war ein als Gartenzwerg
verkleideter junger Mann mit einer kegelförmigen roten
Kopfbedeckung, die mindestens einen halben Meter hochragte, einem
weißen Bart und einer weißen Perücke:
Markús’ Sohn Hjalti. Im Gegensatz zu den anderen
Gästen schien er sich nicht besonders gut zu amüsieren.
Er stierte Dóra unter seinem bizarren Hut an, wich aber
ihrem Blick aus, als sie zurückschaute. Dóra vermutete,
dass ihm das gefühlsduselige Wiedersehen mit seinem Vater an
dem Tag, als Markús aus der U-Haft entlassen worden war,
peinlich war. Sie versuchte, nicht allzu oft in Hjaltis Richtung zu
schauen. Das war leichter gesagt als getan, denn Markús rief
ihr ständig irgendetwas zu. Er musste ihr unbedingt mitteilen,
dass er seinem Sohn endlich eine Wohnung auf den
Westmännerinseln gekauft hatte. Dann rief er einen Trinkspruch
auf Hjalti aus, der sich dabei nicht besonders wohl zu fühlen
schien. Am Ende kam Dóra sich irgendwie fehl am Platze vor
und beschloss, mit den Kindern noch einmal nach draußen zu
gehen. Es war noch ziemlich hell, und trotz des Gedränges im
Zelt hatte Leifur Dóra angeboten, den Kinderwagen dort
stehenzulassen, denn der Boden im Herjólfsdalur war viel zu
matschig.
Dóra
stand auf und setzte Orri wieder auf ihre Hüfte. Er breitete
die Arme aus, schmiegte sich an sie und legte seine Wange an {345
}ihre. Er war so sanft, dass Dóra manchmal darüber
nachdachte, ob er sein ganzes Leben lang die Rolle des
Trösters innehaben würde. Sie wusste nicht, warum sie
sich so komisch fühlte, und hoffte, dass es nicht mit dem
Telefonat mit Bella am Morgen zusammenhing. Die Sekretärin
hatte von Dóra geträumt und sich berufen gefühlt,
ihrer Chefin von dem Traum zu erzählen. Dóra war darin
mit Asche bedeckt gewesen, die aus Ohren und Mund drang. Laut
Dóras Traumdeutungsbuch signalisierte Asche großes
Unheil und war ein Vorzeichen für Probleme und Unglück.
Dóra hatte den üblen Verdacht, dass Bella sie nicht
angerufen hätte, wenn sich der Traum positiv deuten
ließe. Sie hatte sich von der Sekretärin mit den Worten
verabschiedet, sie glaube nicht an solchen Unsinn, und Bella solle
lieber die Finger davon lassen. Aber Dóra fühlte sich
gar nicht so, als würde sie nicht daran glauben. Seit der Fall
Markús beendet war, bedrückte sie etwas. Aldas
Mörder war immer noch nicht gefunden worden – und
Dóra hasste ungelöste Fälle.
Die
Vorstellung, dass sie dem Mörder im Verlauf von
Markús’ Verteidigung möglicherweise begegnet war,
war unheimlich. Es kamen zwar viele als Täter in Frage, aber
keiner wirkte überzeugend. Ganz oben auf der Liste standen
Adolf, Halldóra Dögg und die Schönheitschirurgin
Dís. Ágúst, Dís’ Praxiskollegen,
hatte Dóra nie getroffen und konnte ihn nicht
einschätzen.
Aber bei
diesem Festival sollte man sich amüsieren und sich nicht den
Kopf über Dinge zerbrechen, die man sowieso nicht ändern
konnte. Dóra zwang sich zu einem
Lächeln.
»Sollen
wir noch ein bisschen rumgehen?«, fragte sie ihre Tochter.
»Du musst doch allen deine Nase
zeigen.«
»Ich
will noch in andere Zelte«, sagte Sóley. Die viel zu
große Haarspange prangte auf ihrem Kopf. »Die sind
cool.«
»Wir
können nicht einfach irgendwo reingehen, aber wir schauen uns
draußen noch ein bisschen um. Hier sind so viele Zelte, und
wir haben erst einen kleinen Teil gesehen.« Sie gingen zur
äußersten Zeltreihe direkt am Hang. »Vielleicht
treffen wir {346 }Gylfi und Sigga.« Dóra ließ
ihren Blick über die Menschenmenge auf dem Hang
wandern.
Sie waren beim
allerletzten Zelt angelangt. Kein Laut drang nach draußen,
weder Stimmen noch Gesang wie aus den anderen Zelten. »Darf
ich mal reingucken, Mama?«, bat Sóley. »Nur ganz
kurz?«
Dóra
nickte. Alle Leute schienen umherzuschlendern und überall
hineinzuschauen.
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