Das Gluehende Grab
Allerdings waren die meisten Ortsansässige
oder ehemalige Einwohner, die Freunde und Bekannte besuchten.
Sóley schwang die Tür aus weißem Leinentuch auf
und hatte schon vergessen, dass sie nur ganz kurz hineinschauen
wollte. Das Zelt war viel kleiner als Markús’ und
Leifurs und nicht so verschwenderisch mit Möbeln ausstaffiert,
nur mit einem wackeligen Sofa und zwei Küchenstühlen. Auf
dem einen saß Aldas Schwester Jóhanna mit einer Platte
voller Fladenbrot und Räucherlamm vor sich, die noch mit
Frischhaltefolie abgedeckt war. Jóhanna starrte erst
Sóley, dann Dóra an. »Ach, du
bist’s«, sagte sie froh, stand auf und bat sie herein.
»Es ist genug von allem da.« Der zweite Satz klang noch
flehender als der erste. Dóra trat ein. »Wie
schön, euch zu sehen.«
Nachdem
Sóley einen Prins-Póló-Schokoriegel und ein
Glas Limonade bekommen hatte, nahm Dóra ein Fladenbrot,
obwohl sie überhaupt keinen Hunger hatte. Orri hatte zwar
schon längst genug gegessen, durfte aber auch an einem Brot
herumnuckeln. Sie konnte die Frau schließlich nicht mit der
unberührten Platte wieder nach Hause gehen lassen.
»Gibt’s was Neues im Fall Alda?«, fragte
Dóra, als sie einen Bissen heruntergeschluckt
hatte.
»Tja,
ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es ist sehr viel ans
Licht gekommen, aber nichts davon scheint zum Mörder zu
führen.«
Dóra
nickte und biss von ihrem Brot ab. »Ich weiß, dass die
Ärztin, mit der Alda zusammengearbeitet hat, der Polizei etwas
mitgeteilt hat. Ich hatte gehofft, es wäre wichtig.«
Dóra hatte nicht versucht, Bragi zu überreden, ihr
davon zu erzählen, obwohl es sie sehr gereizt
hatte.
Jóhanna
schob Sóley die Platte mit den Fladenbroten zu. »Ja,
ja. Diese Frau hat das Medikament, dieses Botox, abgegeben, mit dem
Alda ...«, sie verstummte und schaute zu Sóley,
»... du weißt schon. Sie hat es von Aldas Nachttisch
genommen, als sie sie ... du weißt schon ... Ich denke, sie
wollte verhindern, dass die Arztpraxis in die Sache hineingezogen
wird. Sie hat geglaubt, dass Alda sich selbst
...«
»Hat man
herausgefunden, woher das Botox stammt? Waren Fingerabdrücke
auf der Verpackung?« Dóra versuchte, ihre Frage ohne
ein du weißt schon zu formulieren.
»Nur
Aldas Fingerabdrücke. Aber das muss nichts heißen, denn
derjenige, der ... du weißt schon ... hatte
möglicherweise Handschuhe an. Sie haben Reste von
Handschuhpuder gefunden«, sagte Jóhanna stirnrunzelnd.
»Dessen Herkunft konnten sie allerdings feststellen. Der
andere Arzt, Ágúst heißt er, hat es gekauft.
Aber ich bin mir nicht sicher, ob er die Wahrheit sagt. Er
behauptet, eine Übereinkunft mit Alda getroffen zu haben
– sie hätte eine unbegrenzte Menge Botox bekommen und
als Gegenleistung Patienten aus der Notaufnahme an ihn
verwiesen.«
»Was?«
»Ágúst
behauptet, Alda hätte Patienten, die zum Beispiel
Schnittwunden im Gesicht hatten, aussortiert. Sie hätte ihnen
geraten, sich Narben oder ihre Nase oder sonst was operieren zu
lassen und ihnen Ágústs Visitenkarte gegeben. Die
meisten Patienten waren wohl betrunken oder verwirrt und dachten,
sie würden zu einem anderen Arzt überwiesen, zur
Weiterbehandlung nach der ersten Notversorgung im
Krankenhaus.«
»Wurde
das denn nicht überprüft?«, fragte
Dóra.
»Doch,
es gab einen E-Mailverkehr zwischen Alda und Ágúst.
Dís hat ihn ebenfalls der Polizei übergeben.
Anscheinend bestätigen die Mails die Geschichte. Und in der
Notaufnahme hat ein Gerücht darüber die Runde gemacht,
aber natürlich ist es kein Problem, E-Mails zu fälschen,
und Klatsch am Arbeitsplatz war noch nie eine besonders
vertrauenswürdige Quelle.«
Dóra
nickte, obwohl sie kaum in der Lage wäre, eine E-Mail zu
fälschen. Dís schien auch nicht gerade der Typ
dafür zu sein. Ein Gerücht in der Notaufnahme hatte
Hannes ja bereits erwähnt. »Wofür brauchte Alda
Botox? Hätten ihre Kollegen sie nicht umsonst spritzen
können?«
»Sie
soll Freundinnen bei sich zu Hause gegen Bezahlung gespritzt haben,
für einen wesentlich günstigeren Preis als in der
Praxis«, antwortete Jóhanna und schüttelte den
Kopf. »Alda soll sich damit was nebenbei verdient
haben.«
»Stimmt
das denn? Wusstest du, dass sie das gemacht
hat?«
»Nein,
ich kann mir das nicht vorstellen«, sagte Jóhanna.
»Wer seiner Schwester Botox anbietet, muss ja nicht gleich
die ganze Stadt dazu einladen.«
Mehr musste
sie dazu nicht sagen. Jóhanna hatte geglaubt, die Einzige
gewesen zu sein, die
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