Das Gold der Lagune: Historischer Roman (German Edition)
Hansestadt.
Erinnerungen bemächtigten sich ihrer, Stunden voller Leid und Scham, aber auch der Genugtuung zogen wie rasch ziehende Wolken an ihrem inneren Auge vorbei, bis ihr das Herz wie Hammerschläge in der Brust pochte. Ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf.Warum sollte sie sich ihrer Tränen schämen, wo doch niemand in der Nähe war, den es kümmerte? Sie machte sich nicht die Mühe, sie fortzuwischen, und schritt weiter durch die Dunkelheit, dem Ufer der Wakenitz zu, und trat auf das schlickige Gras.
Als ihre Füße in das eiskalte Wasser eintauchten, zuckte sie zusammen und hielt einen Lidschlag lang die Luft an. Unwillkürlich wich sie zurück, denn die Kälte ließ sie erzittern. Mirke atmete tief ein und machte einen Schritt vorwärts, in das jetzt knöcheltiefe Wasser hinein, dann einen zweiten, obwohl ihre Zähne heftig aufeinanderschlugen. Niemand würde es bemerken, wenn sie jetzt umkehrte. Der kräftige Wind blähte ihren Umhang und riss ihr die Kapuze vom Haupt, während ein durch ihre Geräusche aufgeschrecktes Vogelpaar vor ihr Reißaus nahm und irgendwo in der Nacht verschwand.
Sie zwang sich weiterzugehen. Schon reichte ihr das Wasser bis zu den Knien. »Weiter « , zischte sie sich selbst zu. »Bring es zu Ende. Nur noch ein paar Schritte, dann ist es vorbei.«
Ein bitterer Zug legte sich um ihre Lippen. Ihr Leben war vertan. Einerlei, was auf sie zukommen würde, das Höllenfeuer war ihr ohnehin sicher. Inzwischen reichte ihr das Wasser bis zur Brust. »Weiter!« Doch das war gar nicht so einfach, denn je tiefer sie in den Fluss hineinwatete, desto schwerer zog das Wasser sie hinab . Dazu kam die Kälte, die ihr die Luft aus den Lungen presste und ihren zitternden Leib lähmte. Noch ein Schritt. Bitte vergebt mir!Und noch einer. Dann spürte sie keinen Grund mehr unter ihren Füßen.
Ein Schiffer entdecktedie Leiche, die seicht stromabwärts dahintrieb, zwei Tage später. Unrat und ein paar dünne Zweige umgaben den schmalen Leib der jungen Frau. Gräser hatten sich in ihren aufgelösten langen Haaren verfangen und lagen wie ein Schleier um ihren Kopf. Das Gesicht mit dem aufgerissenen Mund war fahl, und die Augen starr gen Himmel gerichtet .
Als Mirke Pöhlmann auf dem Schindacker beigesetzt wurde, dort wo man erschlagene Hunde und Selbstmörder verscharrte, hatten sich nur wenige Menschen um die am Abend ausgehobene Grube eingefunden . Allein das fröhliche Zwitschern der Vögel unterbrach die beklemmende Stille. Kein Priester hielt eine Grabrede, niemand sprach einige Worte der Erinnerung und des Abschieds. Einzig der Mann, der den Leichnam in die ungeweihte Erde gelegt hatte, blieb noch einige Augenblicke länger an dem flachen Hügel stehen.
Emmerik Schimpfs Gedanken wanderten zu der Zeit zurück, in der Mirke Pöhlmann in seinem Haus gelebt hatte. Dann wandte auch er sich ab und schritt davon.
38
Hamburg
A ls Minna zwei Tage nach Rafaels Geburt aufstand und in Elisabeths Kammer ging, um sie anzukleiden und mit ihr in die Küche hinunterzugehen, lag das Mädchen nicht in seinem Bett. Wahrscheinlich ist sie schon nach unten gegangen, um sich etwas zu trinken zu nehmen, dachte die Lohnarbeiterin, während sie in ihre eigene Kammer zurückging und eine wollene Jacke über das lange Leinenhemd zog. Doch auch in der Küche war nichts von Elisabeth zu sehen. Sie fand das Kind in der Dornse , wo Baldo den Hund am Abend in der Nähe des Ofens auf eine Decke gebettet hatte. Ihre Hände lagen auf Lumps Rücken undstreichelten ihn unablässig. Als sie Minna bemerkte, hob sie den Kopf und schaute die Lohnarbeiterin mit ernstem Blick an.
»Was machst du hier?«, wollte diese wissen.
Elisabeth erhob sich und kam auf Minna zu. »Ich habe für Lump gebetet, damit er schnell wieder gesund wird«, gab sie treuherzig zurück.
Der kindliche Glaube des Mädchens rührte Minna an, und sie konnte nur hoffen, dass dieses Vertrauen in die Hilfe des Himmels nicht enttäuscht wurde.
Um die Mittagszeit legte Minna Lump frischen, erwärmten Sud auf die Schnittwunde und wechselte den Verband. Dabei stellte sie fest, dass seine Schnauze wieder kalt und feucht war.
»Sieh nur, mein Schatz«, sagte sie zu Elisabeth, die sie aufmerksam beobachtete, »deine Gebete wurden erhört. Lump hat kein Fieber mehr.«
Das Mädchen strahlte und umfasste den Hundekopf, um ihm einen Kuss auf die Stirn zu drücken. »Mein Lump, bald bist du wieder gesund.« Sie lachte und klatschte in die Hände. »Manchmal hilft auch
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