Das goldene Ufer
einst Stephan Thode und Landolf Freihart gewesen waren, hatte Walther nicht mehr gefunden, allerdings auch nicht wirklich gesucht.
Ihr letztes Semester war bereits fortgeschritten, als Professor Artschwager Walther nach der Vorlesung aufhielt.
»Ich würde gerne mit Ihnen sprechen, Fichtner!«
»Ich stehe zu Ihrer Verfügung, Herr Professor!«
Zu Walthers Verwunderung erklärte der Professor, er solle sich anschließend in seinem Haus einfinden. »Ich habe noch ein paar Bücher zu sortieren«, fügte er hinzu.
Da Walther seit jenem ersten Winter auf der Universität von Artschwager wie jeder andere Student behandelt worden war, ahnte er, dass mehr dahinterstecken musste, und beeilte sich, dem Professor zu seinem Haus zu folgen.
Dort führte ihn Artschwager sogleich in die Bibliothek. Während er Walther einzelne Bücher reichte, damit dieser sie im Regal einsortierte, fragte er ihn ohne Umschweife: »Was werden Sie tun, wenn Sie Ihr Studium abgeschlossen haben?«
Walther überlegte kurz und zuckte dann mit den Achseln. »Vorerst stehe ich noch in den Diensten des Grafen Renitz und will mir erst einmal anhören, welche Pläne er mit mir hat.«
»Der alte Graf ist in Ordnung. Von seinem Sohn kann ich das jedoch nicht behaupten. Graf Diebold hätte kein einziges Semester geschafft, wenn Sie ihm nicht alles vorgekaut hätten, wie es Tiermütter mit ihren Jungen tun. Auf seine Gunst sollten Sie sich daher nicht verlassen«, wandte der Professor ein.
»Das tue ich auch nicht. Doch noch lebt der alte Herr, und er war, als ich ihn das letzte Mal sah, bei guter Gesundheit. Auch hat er die sechzig erst um wenige Jahre überschritten und wird hoffentlich noch lange unter uns weilen.« Dabei war Walther bewusst, dass er einem Traumgebilde nachhing, denn Medard von Renitz wurde immer mehr von seiner Gemahlin bevormundet, und die war ihm gewiss nicht wohlgesinnt.
Artschwager schien es ähnlich zu sehen. »Sie sollten sich von Renitz trennen, Fichtner. Machen Sie Ihren Doktor, dann steht Ihnen die Welt offen.«
»Sie wissen doch, dass ich mir keinen besseren Abschluss erlauben kann, als Graf Diebold ihn schafft, Herr Professor. Das Geld, um auf eigene Faust weitermachen zu können, habe ich nicht.«
»Das ist bedauerlich«, sagte Artschwager schnaubend. »Aber vielleicht gelingt es Ihnen später. Ich bin gerne bereit, Ihnen zu helfen.«
Für einen Augenblick erwog Walther ernsthaft, das Angebot anzunehmen. Der Gedanke, Artschwager um Geld bitten zu müssen, ließ ihn davon absehen. Auch wusste er nicht, wie Graf Renitz darauf reagieren würde, und er wollte sich diesen Giselas wegen nicht zum Feind machen. Daher schüttelte er den Kopf. »Es tut mir leid, Herr Professor. Doch ich liebäugle mit dem Gedanken, dieses Land zu verlassen.«
»Sie wollen auswandern?« Artschwager schien verblüfft, lachte dann aber leise auf. »Also habe ich mich doch nicht in Ihnen getäuscht. Zwischendurch fürchtete ich fast, Sie wären einer von denen, die sich um jeden Preis ducken und anpassen wollen. Doch jetzt spüre ich, dass Sie Charakter haben. Wäre ich jünger, hätte ich schon längst den Staub dieses Landes voller Kleinstaaten und Protzfürsten von den Füßen geschüttelt. Aber Alter und Bequemlichkeit haben dies verhindert. Dabei hatte ich auch einmal Ideale. Ich habe damals, als Napoleon sich zum ersten Konsul in Frankreich ernannt hat, sogar mitgejubelt, denn ich hegte wie viele die Hoffnung, er würde Europa gleiches Recht und Gesetz für alle bringen.
Stattdessen hat er aus unserem Heimatland ein Schlachtfeld gemacht! Daher war es mit meiner Bewunderung für ihn rasch vorbei. Meine beiden Söhne starben im Kampf für ein freies und geeintes Deutschland, doch wenn ich mich so umsehe, fürchte ich, dass ihr Opfer umsonst war. Wir leben nicht einmal mehr im Heiligen Römischen Reich mit einem Kaiser als nominellem Oberhaupt, sondern müssen einen Haufen Despoten ertragen, die sich gleich erhaben dünken und alles tun, um den einfachen Mann in den Staub zu treten.«
Eine solche Rede hätte Walther von Artschwager wahrlich nicht erwartet. Erstaunt sah er auf und meinte in der ernsten Miene seines Mentors auch die Scham zu lesen, seine einstigen Ideale für ein halbwegs angenehmes Leben aufgegeben zu haben. Das, schwor Walther sich, würde er niemals tun, und wenn er in jenem fremden Land als Knecht anfangen musste.
Er lächelte wehmütig. »Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, Herr Professor, und verspreche Ihnen, es
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