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Das goldene Ufer

Das goldene Ufer

Titel: Das goldene Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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hatte, als ihre Beschützerinnen sie wegen Graf Diebold hierhergeschickt hatten. Dort lagen nun Werkzeuge, ein Wasserschaff und andere Gegenstände wild durcheinander. Sie seufzte, stellte ihren Korb auf dem Tisch ab und sah sich um. Schließlich trat sie ins Schlafzimmer und öffnete die Läden. Als sie sich wieder umdrehte, sah sie den Förster in voller Kleidung auf dem Bett liegen. Er schien zu schlafen, fuchtelte aber mit den Armen und stieß militärische Befehle aus.
    »Gebt auf die linke Flanke acht! Erstes Glied, kniet nieder und legt an. Die Kosaken kommen! Haltet stand!«
    Vorsichtig kam Gisela näher und rüttelte den Förster an der Schulter. »Herr Stoppel, was ist mit Ihnen?«
    In dem Augenblick fuhr der Mann mit einem gellenden Aufschrei hoch, fasste mit beiden Händen nach ihrem Hals und drückte zu.
    Gisela spürte, wie ihr die Luft wegblieb, und wollte schreien. Doch kein Laut drang aus ihrer Kehle. Es gelang ihr auch nicht, die Hände des Försters von ihrem Hals zu lösen. Der Schmerz wurde immer stärker, und als sie schon glaubte, es nicht mehr aushalten zu können, ertastete sie auf der Kommode neben dem Bett Stoppels Hut und schlug damit auf ihn ein.
    Ein Wehlaut erklang, dann lösten sich seine Hände von ihr. Während sie japsend nach Luft schnappte, starrte der Förster sie erschrocken an. »Was ist geschehen?«
    »Beinahe hätten Sie mich erwürgt«, keuchte Gisela. »Dabei bin ich wirklich kein Kosak!«
    »Nein, das bist du nicht. Was machst du eigentlich hier?«, fragte Stoppel verwirrt.
    »Frau Frähmke hat mich geschickt, um Ihnen Lebensmittel zu bringen. Da die Tür offen war, bin ich ins Haus, und als ich Sie schreien hörte, wollte ich nachsehen, was geschehen ist. Dabei …« Gisela brach ab und blickte anklagend auf seine Hände.
    Mit einem Mal begann Stoppel zu schluchzen. »Es tut mir so leid! Ich wollte dir wirklich nicht weh tun. Ich …«
    »Sie haben mich für einen Kosaken gehalten!«, sagte Gisela mit belegter Stimme.
    Der Förster nickte. »Ich bekomme diese Bilder einfach nicht aus dem Kopf. Urplötzlich überfallen sie mich, und dann glaube ich, wieder in Russland zu sein, wie anno 1812. Ich …« Der Rest seiner Worte ging in einem Weinkrampf unter.
    Gisela sah auf den Mann hinab und rieb sich dabei den schmerzenden Hals. Auch sie wurde in den Nächten immer noch von jenen furchtbaren Bildern heimgesucht, in denen ihre Eltern verzweifelt versuchten, dem Tod in Russland zu entkommen. Mehr als ein Mal hatte sich ihr Regiment während des Rückzugs gegen Kosakenangriffe zur Wehr setzen müssen und war Mann für Mann aufgerieben worden. Wäre es den wenigen Überlebenden nicht gelungen, sich dem noch halbwegs geordnet marschierenden Regiment Renitz anzuschließen, würden ihre Gebeine wohl wie die vieler anderer unter dem weiten Himmel Russlands bleichen.
    Nun fragte Gisela sich, ob sich auch ihr Verstand eines Tages so trüben würde, wie dies bei Stoppel der Fall war. Würde sie in so einem Anfall ein Messer packen und auf die Köchin losgehen, nur weil sie glaubte, einen Kosaken vor sich zu haben? Sie fand diesen Gedanken entsetzlich. Allerdings mussten sowohl Cäcilie wie auch die Mamsell den Plan aufgeben, sie mit Stoppel zu verkuppeln. Sonst würden die beiden Frauen sie der Gefahr aussetzen, des Nachts im Ehebett erdrosselt zu werden.
    Gisela atmete mehrmals tief durch und ging zur Tür. »Cäcilie hat mir etwas mitgegeben, das ich nur aufwärmen muss. Wenn es fertig ist, können wir essen, und danach werden Sie sich gewiss besser fühlen.«

9.
    M it den Jahren wurde Gisela zur jungen Frau und zu Luise Frähmkes rechter Hand, auf die diese nicht mehr verzichten konnte. Die meisten Bediensteten auf Schloss Renitz hätten sich nicht gewundert, wenn sie einmal deren Nachfolgerin geworden wäre. Dem stand allerdings nicht nur ihr Glaube, sondern auch die Abneigung entgegen, welche die Gräfin ihr entgegenbrachte. Zu Giselas Erleichterung aber blieben Medard und Elfreda von Renitz von Jahr zu Jahr länger aus und weilten immer nur wenige Wochen im Schloss. Ihre Welt waren die Bäder von Pyrmont, Karlsbad, Salzuflen und vor allem Baden in der gleichnamigen Markgrafschaft am Rhein.
    Auch in Göttingen war die Zeit nicht stehengeblieben, und so neigte sich das Studium für Walther und Diebold langsam dem Ende zu. Die meisten aufmüpfigen Studenten hatten die Georg-August-Universität verlassen und die neuen fanden sich mit dem rigiden Regime ab. Wirkliche Freunde, wie es

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