Das Gottesgrab
befestigt war. Der Schacht führte viel weiter in die Tiefe, als sie gedacht hatte, vielleicht sechs Meter. Normalerweise konnte man im Delta nicht so tief graben, ohne den Grundwasserspiegel zu erreichen, aber die Ausgrabungsstätte lag auf einem Hügel, der von den jährlichen Überschwemmungen des Nils verschont blieb. Deshalb war er schon in der Antike bewohnt gewesen. Gaille rief erneut, hörte aber nur ihren eigenen Atem, der in dem engen Schacht verstärkt wurde. Lose Erde rieselte an ihr vorbei. Doch die Neugier war größer als ihre Vorsicht. Natürlich kannte sie die Gerüchte über diesen Ort, obwohl keiner ihrer Kollegen offen darüber sprechen wollte.
Schließlich kam sie unten an. Der Boden war mit Basalt-, Granit- und Quarzscherben übersät, als wären alte Monumente und Statuen zerschlagen und hinabgeschüttet worden. Ein schmaler Gang führte nach links. Sie rief erneut, dieses Mal leiser, und hoffte, keine Antwort zu erhalten. Ihre Lampe begann zu flackern und ging dann ganz aus. Sie klopfte sie gegen die Wand, und die Lampe leuchtete wieder. Als Gaille weiterging, knirschten die Scherben unter ihren Füßen. Zu ihrer Linken sah sie eine Wandmalerei in erstaunlich hellen Farben. Offenbar war sie gesäubert, vielleicht sogar retuschiert worden. Eine menschliche Gestalt im Profil, gekleidet wie ein Soldat, aber mit dem Kopf und der Mähne eines grauen Wolfes. In der linken Hand hielt sie einen Stab, in der rechten eine Militärstandarte, deren Stange zwischen den Füßen ruhte. Neben der Schulter entfaltete sich eine scharlachrote Fahne vor einem türkisfarbenen Himmel.
Mit den antiken ägyptischen Göttern kannte sich Gaille nicht besonders gut aus, doch ihr Wissen reichte, um Wepwawet zu erkennen, einen Wolfgott, der mit anderen Göttern schließlich zu Anubis, dem Schakal, verschmolzen war. Er war vor allem als Kriegsgott verehrt und häufig auf ägyptischen Militärstandarten dargestellt worden. Sein Name bedeutete ‹Wegeöffner›, er war sozusagen der Kundschafter der Armee gewesen. Aus diesem Grund war ein Miniaturroboter, der zur Erforschung der Luftschächte in den großen Pyramiden konstruiert worden war, nach einer Abwandlung seines Namens benannt: Upuaut. Soweit Gaille wusste, hatte er im Mittleren Reich um sechzehnhundert vor Christus an Bedeutung verloren. Das hieß, dass diese Wandmalerei über dreitausendfünfhundert Jahre alt sein musste. Die Standarte, die Wepwawet hielt, erzählte jedoch eine andere Geschichte: Darauf sah man Kopf und Schultern eines gutaussehenden jungen Mannes, dessen Gesicht einen glückseligen Ausdruck hatte und wie das einer Renaissance-Madonna leicht nach oben geneigt war. Man konnte nie sicher sein, ob man es wirklich mit einem Porträt von Alexander dem Großen zu tun hatte; sein Einfluss auf die Ikonographie war so groß gewesen, dass die Menschen noch Jahrhunderte später so aussehen wollten wie er. Wenn dies nicht Alexander war, dann war das Bild zweifellos von ihm beeinflusst und konnte unmöglich früher datiert sein als 332 vor Christus. Und das warf eine wichtige Frage auf: Was um Himmels willen hatte er auf einer Standarte zu suchen, die von Wepwawet gehalten wurde? Einem Gott, der schon lange vor Alexanders Zeit aus dem Blickfeld verschwunden war?
Sie schob diese Gedanken beiseite und ging weiter. Elenas Namen murmelte sie inzwischen nur noch als Entschuldigung, falls sie jemandem begegnen sollte. Als ihre Taschenlampe erneut ausging, wurde es völlig finster um sie herum. Wieder klopfte sie die Lampe gegen die Wand, bis sie aufleuchtete. Sie kam zu einer weiteren Wandmalerei, die mit der ersten identisch, aber noch nicht vollständig gereinigt war. Die Wände sahen verkohlt aus, als hätte hier ein großes Feuer gewütet. Weißer Marmor leuchtete vor ihr auf, zwei Steinwölfe, die auf dem Bauch lagen. Weitere Wölfe. Sie runzelte die Stirn. Als die Makedonier Ägypten erobert hatten, gaben sie vielen Städten zu Verwaltungszwecken griechische Namen, die sich häufig von lokalen Kultgöttern ableiteten. Wenn Wepwawet der Kultgott dieses Ortes gewesen war, dann wird dies bestimmt …
«Gaille! Gaille!» Aus der Ferne rief Elena. «Sind Sie da unten? Gaille!»
Gaille lief den Gang zurück. «Elena?», rief sie hinauf. «Sind Sie das?»
«Was haben Sie dort unten zu suchen?»
«Ich dachte, Sie wären gestürzt und brauchen Hilfe.»
«Kommen Sie hoch!», befahl Elena wütend. «Sofort.»
Gaille kletterte hinauf. Sie hielt die Luft an, bis
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