Das Graveyard Buch
stockfleckigen Gesangbüchern stand eine kleine Ledertasche, eine Miniaturausgabe von Silas’ eigener. »Deine ganze Habe ist da drin«, sagte S i las.
»Erzähl mir von der Ehrengarde, Silas«, bat Bod. »Du bist einer von ihnen, Miss Lupescu gehörte dazu. Wer noch? Seid ihr viele? Und was tut ihr?«
»Wir tun nicht genug«, sagte Silas. »Meistens schü t zen wir die Grenzbereiche, die Grenzen von etwas.«
»Die Grenzen wovon?«
Silas schwieg.
»Du meinst so was wie diesem Jack und seinen Leuten Einhalt gebieten?«
»Wir tun, was wir tun müssen«, sagte Silas. Er klang müde.
»Aber ihr habt das Richtige getan. Ich meine, diesen Jacks Einhalt zu gebieten. Sie waren schrecklich. Sie w a ren Ungeheuer.«
Silas trat noch näher an Bod heran und der Junge legte den Kopf in den Nacken und schaute hinauf in das blasse Gesicht des Mannes. »Ich habe nicht immer das Richtige getan«, sagte Silas. »Als ich jung war … habe ich schlimmere Dinge getan als Jack. Schlimmere Dinge als irgendeiner von ihnen. Ich war das Ungeheuer damals, Bod, und schlimmer als jedes Ungeheuer.«
Es kam Bod gar nicht in den Sinn, sich zu fragen, ob sein Vormund log oder ob er scherzte. Er wusste, dass er ihm die Wahrheit sagte. »Aber jetzt nicht mehr, oder? «
» Menschen können sich ändern«, antwortete Silas. Dann verstummte er. Bod fragte sich, ob sein Vormund, ob Silas seinen Erinnerungen nachhing. Aber dann sagte Silas: »Es war mir eine Ehre, dein Vormund zu sein, ju n ger Mann.« Dann griff er unter seinen Umhang und zog eine alte a b gewetzte Brieftasche heraus. »Das ist für dich. Nimm.«
Bod nahm die Brieftasche, öffnete sie aber nicht.
»Da ist Geld drin. Genug, um dir einen Start in der Welt zu ermöglichen, aber mehr nicht.«
»Ich wollte heute Alonso besuchen«, sagte Bod, »aber er war nicht da oder ich konnte ihn nicht mehr sehen. Ich wollte ihn bitten, mir von den fernen Ländern zu erzä h len, die er bereist hat. Von Gletschern, von Inseln und von Walen. Von fremden Völkern, wo die Menschen ganz seltsam angezogen sind und die seltsamsten Dinge essen. Diese Orte gibt es doch noch, oder?
Ich meine, es gibt doch eine ganze Welt da draußen. Kann ich sie bereise n? Kann ich sie mir anschauen?«
Silas nickte. »Es gibt tatsächlich eine ganze Welt da draußen. Du findest einen Pass innen in deiner Reiset a sche. Er ist auf den Namen Nobody Owens ausgestellt und er war nicht leicht zu beschaffen.«
»Falls ich es mir anders überlege«, sagte Bod, »kann ich hierher zurückkommen?« Und dann beantwortete er sich seine Frage selbst. »Wenn ich zurückkomme, wird es ein Ort sein wie jeder andere, aber nicht mehr mein Z u hause.«
»Soll ich dich noch bis zur Friedhofspforte begle i ten?«, fragte Silas.
Bod schüttelte den Kopf. »Es ist am besten, wenn ich allein gehe. Äh, Silas, wenn du irgendwann in Schwi e rigkeiten sein solltest, dann ruf mich. Ich komme und helfe dir.«
»Ich komme nicht in Schwierigkeiten«, sagte Silas.
»Nein, das glaube ich auch nicht. Aber trotzdem.«
In der Krypta war es dunkel, es roch nach Schimmel, nach Feuchtigkeit und nach altem Gemäuer, und zum ersten Mal kam sie Bod sehr klein vor und sehr eng.
»Und jetzt will ich leben«, sagte Bod. »Ich will das Leben mit beiden Händen fassen. Ich will eine Spur im Sand einer unbewohnten Insel hinterlassen. Ich will Fu ß ball spielen. Ich will«, dann machte er eine Pause und er dachte: Ich will alles .
»Gut«, sagte Silas. Dann hob er die Hand, als würde er sich die Haare aus dem Gesicht streichen – eine ganz u n gewohnte Geste. »Wenn es je passieren sollte, dass ich in Schwierigkeiten bin, dann lasse ich dich wirklich h o len.«
»Obwohl du nicht in Schwierigkeiten kommst?«
»Du sagst es.«
Da war etwas um Silas’ Lippen, etwas wie ein Lächeln oder ein Zug des Bedauerns; vielleicht war es aber auch nur ein Spiel der Schatten.
»Also dann auf Wiedersehen, Silas.« Bod streckte ihm die Hand hin, wie er es als kleiner Junge getan hatte, und Silas nahm sie in seine kalte elfenbeinfarbene Hand und drückte sie ernst.
»Auf Wiedersehen, Nobody Owens.«
Bod nahm die Reisetasche, machte die Tür zur Krypta auf und verließ die Kapelle. Dann ging er bis zum Frie d hofsweg hinauf, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Die Tore des Friedhofs waren schon längst geschlo s sen. Auf dem Weg fragte er sich, ob er wohl noch wie früher durch die Eisengitter gleiten könnte oder ob er zur Kapelle zurückkehren und einen Schlüssel
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