Wachsam
1
Cassidy fuhr wohlgemut durch den abendlichen Sonnenschein, sein Gesicht war so nah an der Windschutzscheibe, wie der Sicherheitsgurt es zuließ, der Fuß wechselte rastlos zwischen Gaspedal und Bremse, der Blick spähte die schmale Straße entlang nach verborgenen Gefahren. Auf dem Nebensitz lag, säuberlich in einer Plastikhülle verwahrt, eine Generalstabskarte von Mittel-Somerset. Ein Ölbasis-Kompaß neuesten Typs war mittels einer Saugvorrichtung am Walnußpaneel befestigt. In einer Ecke der Windschutzscheibe, gerade noch innerhalb seines Blickfeldes, steckte ein Exemplar des Angebots der Maklerfirma mit dem klingenden Briefkopf Firma Grimble & Outhwaite, Mount Street W., in einer von Cassidy selber erfundenen Aluminium-Halterung. Er fuhr, wie immer, mit größter Konzentration, und von Zeit zu Zeit summte er mit der verschämten Treuherzigkeit vor sich hin, die unmusikalischen Personen zu eigen ist.
Er fuhr jetzt über ein Moor. Dünner Bodennebel zog über Gräben und Weidenbäume, glitt in kleinen Schwaden über die funkelnde Kühlerhaube seines Wagens, doch der Himmel über ihm war hell und wolkenlos, und die Frühlingssonne verwandelte die nahenden Hügel in Smaragde. Durch einen Hebeldruck ließ er das elektrisch gesteuerte Fenster herab und lehnte die eine Kopfhälfte in den Luftstrom. Sofort stieg ihm kräftiger Torf- und Silogeruch in die Nase. Über das beflissene Schnurren des Motors hinweg hörte er Geräusche von weidenden Herden und den Ruf eines Hirten, der seine Tiere freundschaftlich schmähte.
»Eine Idylle«, erklärte er laut. »Eine perfekte Idylle.« Mehr als das, es war eine sichere Idylle, denn in der ganzen schönen weiten Welt war Aldo Cassidy der einzige Mensch, der wußte, wo Aldo Cassidy sich aufhielt.
Jenseits seines akustischen Bewußtseins antwortete in einer abgeschlossenen Kammer seiner Erinnerung ein Echo auf die unbeholfenen Akkorde eines angehenden Pianisten. Sandra, Aldos Ehefrau, pflegt ihre künstlerischen Ambitionen.
»Gute Nachricht aus Bristol«, sagte Cassidy in die Musik hinein. »Sie haben vielleicht ein passendes Grundstück für uns. Wir werden es natürlich erst planieren lassen müssen.«
»Gut«, sagte Sandra und korrigierte sorgfältig ihre Handhaltung über den Tasten.
»Liegt eine Viertelmeile von der größten Grundschule und sechshundert Meter von der höheren Schule entfernt. Die Gemeinde sagt, wenn wir die Planierung übernehmen und die Umkleidekabinen stiften, würden sie höchstwahrscheinlich einen Fußgängerübergang über die Umgehungsstraße errichten.«
Sie spielte einen abgerissenen Akkord.
»Hoffentlich keinen häßlichen, Aldo. Stadtplanung ist etwas unendlich Wichtiges, Aldo.«
»Ich weiß.«
»Kann ich mitkommen?«
»Du hast doch deine Anstalt«, erinnerte er sie mit einem Versuch zur Strenge.
Ein weiterer Akkord.
»Ja. Ja, ich habe meine Anstalt«, pflichtete sie bei, und ihre Stimme trällerte leicht kontrapunktisch. »Also mußt du allein hin, nicht wahr? Armer Pailthorpe.«
Sie hatte ihm den Namen Pailthorpe gegeben, es war ihm entfallen, warum. Pailthorpe der Bär, vermutlich; ihre Fauna beschränkte sich vorwiegend auf Bären.
»Tut mir leid«, sagte Cassidy.
» Du kannst ja nichts dafür«, sagte Sandra. »Es hängt vom Bürgermeister ab, nicht wahr?«
»Vom bösen Bürgermeister«, sagte Cassidy. »Sie sollten ihn absägen.«
»Absägen, absägen«, sagte Sandra vergnügt und versuchte, die Schatten aus ihrem Gesicht zu verscheuchen.
Er war blond, achtunddreißig, und in entsprechendem Licht betrachtet ein gutaussehender Mann. Wie sein Wagen, war er mit liebevoller Eleganz ausstaffiert. Vom linken Reversknopfloch bis zur Brusttasche seines tadellosen Jacketts zog sich eine dünne Goldkette, die offensichtlich einem bestimmten, jedoch nicht bestimmbaren Zweck diente. Ästhetisch harmonierte sie vollendet mit dem dezenten Nadelstreifen des darunterliegenden Stoffes; als Teil der Takelage verband sie den Knopf des Mannes mit dem Herzen, wobei offenblieb, welchem Ende der Vorrang gebührte. In Bau und Aussehen hätte er als architektonischer Prototyp des gutbürgerlichen Engländers dienen können, der zwischen den beiden Weltkriegen eine Privatschul-Erziehung genossen hatte; der gerade noch den Pulvergeruch, nie aber den Kugelregen kennenlernte. Er war gedrungen, kurzbeinig, ganz auf Landjunker angelegt, und die knabenhaft trotzigen Züge, die zugleich reif und zurückgeblieben wirkten, ließen noch immer
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