Das grosse Maerchenbuch - 300 Maerchen zum Traeumen
und wäre gar zu gerne dabei gewesen. „Ach“, sprach es zum Schwesterlein, „lass mich hinaus in die Jagd, ich kanns nicht länger mehr aushalten,“ und bat so lange, bis es einwilligte. „Aber,“ sprach es zu ihm, „komm mir ja abends wieder, vor den wilden Jägern schließ ich mein Türlein; und damit ich dich kenne, so klopf und sprich mein Schwesterlein, lass mich herein: und wenn du nicht so sprichst, so schließ ich mein Türlein nicht auf.“
Nun sprang das Rehchen hinaus, und war ihm so wohl und war so lustig in freier Luft. Der König und seine Jäger sahen das schöne Tier und setzten ihm nach, aber sie konnten es nicht einholen, und wenn sie meinten, sie hätten es gewiss, da sprang es über das Gebüsch weg und war verschwunden. Als es dunkel ward, lief es zu dem Häuschen, klopfte und sprach „mein Schwesterlein, lass mich herein.“ Da ward ihm die kleine Tür aufgetan, es sprang hinein und ruhte sich die ganze Nacht auf seinem weichen Lager aus. Am andern Morgen ging die Jagd von neuem an, und als das Rehlein wieder das "Ho, ho!" der Jäger hörte, da hatte es keine Ruhe, und sprach „Schwesterchen, mach mir auf, ich muss hinaus.“ Das Schwesterchen öffnete ihm die Türe und sprach „aber zu Abend musst du wieder da sein und dein Sprüchlein sagen.“
Als der König und seine Jäger das Rehlein mit dem goldenen Halsband wieder sahen, jagten sie ihm alle nach, aber es war ihnen zu schnell und behend. Das währte den ganzen Tag, endlich aber hatten es die Jäger abends umzingelt, und einer verwundete es ein wenig am Fuß, so dass es hinken musste und langsam fortlief. Da schlich ihm ein Jäger nach bis zu dem Häuschen und hörte wie es rief „mein Schwesterlein, lass mich herein“, und sah, dass die Tür ihm aufgetan und alsbald wieder zugeschlossen ward. Der Jäger behielt das alles wohl im Sinn, ging zum König und erzählte ihm, was er gesehen und gehört hatte. Da sprach der König „morgen soll noch einmal gejagt werden.“
Das Schwesterchen aber erschrack gewaltig, als es sah dass sein Rehkälbchen verwundet war. Es wusch ihm das Blut ab, legte Kräuter auf und sprach „geh auf dein Lager, lieb Rehchen, dass du wieder heil wirst.“ Die Wunde aber war so gering, dass das Rehchen am Morgen nichts mehr davon spürte. Und als es die Jagdlust wieder draußen hörte, sprach es „ich kanns nicht aushalten, ich muss dabei sein; so bald soll mich keiner kriegen.“ Das Schwesterchen weinte und sprach „nun werden sie dich töten, und ich bin hier allein im Wald und bin verlassen von aller Welt: ich lass dich nicht hinaus.“ „So sterb ich dir hier vor Betrübnis“, antwortete das Rehchen.
Da konnte das Schwesterchen nicht anders und schloss ihm mit schwerem Herzen die Tür auf, und das Rehchen sprang gesund und fröhlich in den Wald. Als es der König erblickte, sprach er zu seinen Jägern „nun jagt ihm nach den ganzen Tag bis in die Nacht, aber dass ihm keiner etwas zu Leide tut.“ Sobald die Sonne untergegangen war, sprach der König zum Jäger „nun komm und zeige mir das Waldhäuschen.“ Und als er vor dem Türlein war, klopfte er an und rief „lieb Schwesterlein, lass mich herein.“ Da ging die Tür auf, und der König trat herein, und da stand ein Mädchen, das war so schön wie er noch keins gesehen hatte. Das Mädchen erschrack als es sah. dass nicht sein Rehlein sondern ein Mann hereinkam, der eine goldene Krone auf dem Haupt hatte. Aber der König sah es freundlich an, reichte ihm die Hand und sprach „willst du mit mir gehen auf mein Schloss und meine liebe Frau sein?“ „Ach ja“, antwortete das Mädchen, „aber das Rehchen muss auch mit, das verlass ich nicht.“ Sprach der König „es soll bei dir bleiben, so lange du lebst, und soll ihm an nichts fehlen.“ Indem kam es hereingesprungen, da band es das Schwesterchen wieder an das Binsenseil, nahm es selbst in die Hand und ging mit ihm aus dem Waldhäuschen fort.
Der König nahm das schöne Mädchen auf sein Pferd und führte es in sein Schloss, wo die Hochzeit mit großer Pracht gefeiert wurde, und war es nun die Frau Königin, und lebten sie lange Zeit vergnügt zusammen; das Rehlein ward gehegt und gepflegt und sprang in dem Schlossgarten herum.
Die böse Stiefmutter aber, um derentwillen die Kinder in die Welt hineingegangen waren, die meinte nicht anders als Schwesterchen wäre von den wilden Tieren im Walde zerrissen worden und Brüderchen als ein Rehkalb von den Jägern tot geschossen.
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