Das Große Spiel
Erotik.
»John!«, hörte man unten die Frau rufen, die nun wütend das Flussufer hinaufkam. Sie klang ungeduldig und müde. Die siebzig Hektar Grund am Südufer des Firth of Forth gehörten zum Anwesen von Lauriston Castle, einem dreistöckigen, herrschaftlichen Gebäude mit zwei schmalen Wehrtürmchen. Die Frau näherte sich dem Haus und blieb vor dem linken Wehrturm stehen, der von Kragsteinen gestützt wurde. Sie schaute zum Turmzimmer hinauf: »John! Ich muss mit dir reden.« Ein Fenster wurde aufgestoßen. Der Junge streckte seinen Kopf hinaus und schrie: »Was wollen Sie denn jetzt schon wieder, Mutter, ich arbeite!«
Als Janine im großen Speisezimmer das Essen auf den Tisch gebracht hatte, Gemüsesuppe, Brot und Käse, sprach Jean Law ein kurzes Tischgebet. Die zwölf Geburten waren nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Das einst feuerrote, schulterlange Haar war spröde geworden. Sie hatte es mit einem roten Band zusammengebunden. Das Gesicht war ausgemergelt, und ihre Augen erzählten von all dem Leid, das sie erfahren und ertragen hatte. Jean Law war sechsunddreißig Jahre alt. Als sie das Tischgebet beendet hatte, fügte sie leise hinzu: »Und Gott ... beschütze William Law, dass er geheilt und gesund zu den Seinen zurückkehrt.«
Vor wenigen Wochen hatte die sechsköpfige Familie noch in Edinburgh in einer engen Behausung am Parliament Square gewohnt. Jetzt waren sie stolze Besitzer von Lauriston Castle. William Law stand im Zenit seiner beruflichen Karriere, im Zenit der gesellschaftlichen Anerkennung. Und wenn William Law gesund zurückkam, dann war ihr Glück vollkommen. Jean Law hatte Angst vor diesem Gedanken. Sie misstraute dem Glück. Nicht, weil sie schon acht Kinder verloren hatte. Das war in Edinburgh, wo die Leute so eng aufeinander lebten wie nirgendwo auf der Welt, nichts Besonderes. Der Kindstod war so alltäglich, dass man es nicht für nötig hielt, Kinder vor ihrem siebten Lebensjahr zu taufen oder ihnen besondere Zuwendung zu schenken. Nein, Jean Law misstraute dem Glück, weil sie wusste, dass ein Kleeblatt selten vier Blätter hat. Und jetzt, wo sie im Besitz von Lauriston Castle waren, besorgte sie die Abwesenheit ihres Mannes ganz erheblich. Sie war in gleichem Maße religiös wie abergläubisch.
Janine füllte zunächst Jean Suppe auf, dann John und schließlich seinem ein Jahr jüngeren Bruder William. Die beiden Mädchen, sechsjährige Zwillinge, aßen wie üblich draußen in der Küche. Während Janine die Suppe austeilte, starrte John Law erneut auf ihren prallen Busen, der sie nur zum Schein mit einem Busentuch kaschierte. Am liebsten wäre John gleich wieder ins Turmzimmer hochgerannt. Janine hatte ihn regelrecht verhext. Er dachte immerzu an ihren Po, an ihre weißen Schenkel, und sein erigierter Penis brachte ihn schier um den Verstand. Oft schloss er während des Schulunterrichts die Augen, um den Duft ihres Haars zu riechen, den Duft ihres Busens, ihre verschwitzte Haut, ihre nassen Schenkel. Und wenn er die Augen wieder öffnete, entsprang ein leiser Seufzer seinen Lippen.
»Also, John«, begann seine Mutter Jean, »dein Lehrer wollte heute mit mir sprechen. Er hält dich für sehr intelligent. Er meint, du hättest eine ausgesprochene Gabe für Zahlen. Manchmal hättest du sogar einen Hauch von - von Genie. Das g enau waren seine Worte.«
Johns Bruder William begann laut zu lachen. Doch John schien es nicht zu bemerken.
»Aber Mutter«, entgegnete John Law mit einem charmanten Lächeln, »glauben Sie wirklich, mein Lehrer sei in der Lage, Genie zu erkennen?«
»Was soll das heißen?«, fragte seine Mutter.
»Er versteht recht wenig von Mathematik«, antwortete John Law, »und seit er mich unterrichtet, weiß er das sogar.«
»Hochmut kommt vor dem Fall«, kreischte William, »arrogant wie ein Franzose!« Doch John ließ sich erneut nichts anmerken. Er parlierte mit der Gestik eines Erwachsenen. Janine nahm es mit stiller Genugtuung zur Kenntnis. Schließlich hatte sie ihm beigebracht, wie man beim Kartenspiel jegliche Regung unterdrückt und das gesprochene Wort mit Gesten akkompagniert.
»John! Gott wird dich eines Tages für deinen Hochmut strafen!«, rügte ihn seine Mutter.
»Verzeihung, Mutter, aber ist es Hochmut, wenn ich meinen Lehrer auf Fehler hinweise? Soll ich vor Demut erstarren, nur weil er mein Lehrer ist? Respekt muss man sich verdienen, Mutter. Durch Wissen und Leistung. Nicht durch Amt und Würden.«
»Basieren nicht auch Amt
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