Das Hagebutten-Mädchen
Aurich lebte, vor etwas mehr als einem halben Jahr also, da hatte er sich ganz selten einmal einen edlen Tropfen gegönnt. Trockene deutsche Weißweine waren seine Favoriten gewesen. Aber diese Zeit schien zu einem anderen Leben zu gehören. Die letzten sechs Monate waren ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen.
Gestern Abend hatte er süffiges deutsches Bier getrunken. Und zwar viel zu viel. Seit er auf der Insel lebte, hatte er Bekanntschaft mit dem Vollrausch, dem Brummschädel und dem heftigen Nachdurst gemacht. Vorher waren ihm diese drei Halunken fremd gewesen.
Er wusste nicht, warum er auf Juist so viel soff. Er hatte auch keine Angst, dass er zum Alkoholiker werden würde, weil es ihm jetzt viel zu dreckig ging und ihm der Schwur, nie wieder ein Glas Bier anzurühren, viel zu ernst war. Gott sei Dank waren die neun Monate Vertretung auf der Polizeidienststelle Juist bald vorbei. Noch zehn Wochen und drei Tage, dann würde er nach Nordhorn gehen, zur GER, einer Sondertruppe von Polizei und Zoll, die sich mit Drogendelikten an der niederländischen Grenze beschäftigte. Er war als Ermittlungsleiter vorgesehen, das heißt, genau genommen gab es ihn und einen weiteren, ihm unbekannten Anwärter auf diesen ziemlich begehrten Job. Aber er selbst rechnete sich gute Chancen aus. Er hatte sich wirklich noch nie etwas zu Schulden kommen lassen und stets sauber und effizient gearbeitet. Als Beweis seines Engagements hatte er sogar diesen verdammten Job hier auf Juist angenommen. Man munkelte intern, dass ihm der Job im Emsland so gut wie sicher war. Noch zehn Wochen und drei Tage!
Zum Glück lag der Inselwinter fast hinter ihm. Denn im Winter, so hatten ihm Kollegen erzählt, ging es auf Juist ganz besonders hoch her. Wenn die Gäste kamen, dann blieb nicht mehr so viel Zeit zum Feiern. Gott sei Dank.
Prost! Er stürzte das Glas eiskaltes Leitungswasser gierig in seinen trockenen Hals und füllte es gleich wieder nach. Als er sich dabei im Spiegel über dem Waschbecken erblickte, versuchte er krampfhaft, die versoffenen Knitterfalten auf den unrasierten Wangen und das glasige Dunkelrosa seiner Augäpfel zu ignorieren.
Meine Güte, diese Insel hatte ihn ruiniert. Er sah fürchterlich aus. Wäre er sich in diesem Zustand vor einem halben Jahr selbst begegnet, dann hätte er einen weiten Bogen um sich gemacht. Er schleuderte sich Unmengen von kaltem Wasser ins Gesicht, trocknete sich fest mit dem angenehm rauen Handtuch ab, sodass sich seine Haut kühl und glatt anfühlte. Doch man konnte ihm dieses gute Gefühl leider nicht ansehen. Als er wieder in den Spiegel schaute, sah er noch immer jämmerlich aus.
Gnadenlos zupfte er sich mit der bereitliegenden Pinzette ein paar aus der Reihe tanzende Härchen aus den Augenbrauen.
War es das wert gewesen? War der gestrige Abend es wert gewesen, dass er sich heute Morgen fühlte wie ein Spüllappen in der Gemeinschaftsküche einer Studenten- WG?
Er stieg unter die Dusche. Kein Pardon, der Wasserhahn wurde gnadenlos ganz in die blaue Ecke geschoben und die eisigen Wassertropfen, biestig wie Nadeln, quälten seinen noch bettwarmen Körper.
Durchhalten, eine halbe Minute durchhalten, dachte er und schnappte nach Luft. Dann gewöhnst du dich dran. Das bist du deinem Körper schuldig, Axel Sanders.
Es war mehr als eine halbe Minute, mit Sicherheit, aber irgendwann war das kalte Wasser nicht mehr unangenehm, nur noch frisch und sättigend. Er ließ das teure Duschgel in seine Handfläche tropfen und verteilte den duftenden Schaum auf der Brust und unter den Armen.
Und dann gelang ihm das erste Lächeln des Tages. Er dachte an gestern Abend.
Ja. Das war es wert gewesen. Abgesehen von der volkstümlichen Musik, die ja eigentlich gar nicht sein Ding war, und abgesehen vom fettigen Grünkohl, den er nicht unbedingt mochte, abgesehen davon hatte er sich noch nie in seinem Leben so amüsiert wie gestern Abend. So viele ungezwungene Jungs mit verrückten Ideen und, was noch viel erfreulicher gewesen war, so viele ungezwungene Mädchen, die zu allem bereit waren. Ja, er hatte seinen Spaß gehabt. Nicht, dass Axel Sanders die Situation irgendwie ausgenutzt hätte, er war kein Mann, der sich eine betrunkene Schönheit ins Bett holte. Doch allein die vielen seidigen, schlanken Arme, die sich ihm um die Schulter gelegt hatten, und die aufgeknöpften Trachtenblusen hatten ihm einen wunderbaren Abend beschert.
Als sich nun der Schaum des Gels langsam an seinen behaarten Beinen hinabbewegte,
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