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Das Hagebutten-Mädchen

Das Hagebutten-Mädchen

Titel: Das Hagebutten-Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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Wortreich mit offener Jacke um die Ecke gerast kam, die Krawatte wehte über die Schulter nach hinten und ein Schlüsselbund schlackerte gegen den Lenker. Schon von weitem rief er:
    »Was ist passiert?«
    Man hörte die kaum unterdrückte Panik in der Stimme. »Was ist mit Kai?«
    Als er das Rad abbremste, wäre er fast gestürzt. Sofort entdeckte er den Körper im Schaufenster, drückte Sanders wortlos die Schlüssel in die Hand und rannte zur Scheibe. Das Gesicht und die flachen Hände gegen das kalte Glas gepresst, starrte er Kai Minnert an. »Um Himmels willen, sagen Sie mir endlich, was mit ihm ist!«
    Sanders rannte zur Ladentür, die in einer Art Windfang etwas abseits des Bürgersteigs lag. Meine Güte, es waren beinahe ein Dutzend verschiedene Schlüssel am Bund. Er versuchte es mit dem ersten, der passte nicht.
    »Es ist der gelbe«, schrie Henner Wortreich, der das hilflose Klimpern in Sanders’ Hand gehört haben musste.
    »Machen Sie die Tür auf, helfen Sie ihm! Bitte! Doktor, er ist doch nicht tot, oder?«
    Der Arzt sagte nichts, Sanders sah nur aus den Augenwinkeln, wie er mit den Schultern zuckte, und als sich die Tür endlich öffnen ließ, da ging der Mediziner zuerst hinein und deutete Sanders mit einer kurzen Geste an, dass er den aufgelösten Henner Wortreich besser außen vor lassen sollte.
    »Sagen Sie mir bitte, dass er nicht tot ist!«
    Sanders blieb in der Tür stehen und beobachtete den Arzt, der an einer Holzwand den Metallriegel zur Seite schob und die Platte mit einem Ruck zu sich heranzog.
    »Ich habe zum Glück mal gesehen, wie diese Konstruktion funktioniert, als ich für meine Frau hier eine Uhr gekauft habe, die Kai erst aus dem Fenster holen musste.« Er stellte das mannshohe Brett an der Seite ab. Das eine Bein von Minnert fiel plump wie ein Sack aus dem Schaufenster. Noch keine Leichenstarre, dachte Sanders. Wenn Kai Minnert tot war, so war er es noch nicht lange. Der Arzt beugte sich weit über die Leiche, kroch fast ins Schaufenster, horchte mit dem Stethoskop, leuchtete in die Augen, fühlte den Hals, dann stellte er sich aufrecht hin und sagte nur ein Wort. »Tot!« Henner Wortreich musste ihm auf der anderen Seite der Glasscheibe die Buchstaben von den Lippen abgelesen haben, denn er heulte im selben Moment los und fiel auf die Knie. Sanders rannte zu ihm, griff dem zusammengesackten Mann unter die Arme und zog ihn hoch. Er versuchte, Henner Wortreich vom Fenster fortzuziehen.
    »Bitte, beruhigen Sie sich doch«, beschwor er ihn, redete mit auswendig gelernten Phrasen auf ihn ein, bis endlich der Krankenwagen kam und Sanders den herbeieilenden Sanitätern den Fall überlassen konnte. Für Kai Minnert im Schaufenster konnten die Männer ohnehin nichts mehr tun, auch der Arzt winkte ab, da kam jede Hilfe zu spät. Sollten sich die Weißkittel doch lieber um dieses zitternde, aschfahle Häufchen Elend in einem marinefarbenen Dienstsakko kümmern.
    Sanders ging nun endlich in den dunklen Laden, der muffelig roch. Scheinbar Tausende von unzusammenhängenden Gegenständen stapelten sich bis an die Decke, Bilder, Kerzenhalter und alte Instrumente, alles querbeet. Er war noch nie zuvor hier gewesen. Trödel war nicht gerade Sanders’ Welt, er liebte klares, schlichtes Design, ganz neu, ohne Macken und Spuren der Zeit. Doch er wusste, dass Kai Minnert Ahnung von diesem Plunder gehabt hatte, dass er nebenbei die Holzmechaniken alter Schifferklaviere restaurierte und einige dieser Stücke hier gar nicht so wertlos waren, wie sie aussahen. Sanders schaute sich um. Nichts war umgefallen oder zur Seite geschoben worden, und obwohl es zweifelsohne ein wenig chaotisch in diesem Raum aussah, schien nichts auf einen Einbruch hinzudeuten. Kai Minnert war aus einem anderen Grund in sein Schaufenster verfrachtet worden.
    »Kann ich den Toten herausholen oder besser nicht?«, fragte der Arzt. »Ich denke zwar, dass Kai Minnert an einer Kohlendioxid-Vergiftung gestorben ist, doch für die Angaben auf dem Totenschein muss ich ihn näher untersuchen.«
    »Die Schaufensterrückwand war von außen verriegelt, nicht wahr?«, erkundigte sich Sanders. Der Arzt nickte.
    »Damit steht eindeutig fest, dass ihn jemand dort eingeschlossen hat. Ob nun in mörderischer Absicht oder nicht, das müssen wir noch feststellen. Aus diesem Grund würde ich lieber alles an Ort und Stelle lassen, bis die Spurensicherung eingetroffen ist. Vielleicht können Sie ja zunächst das Nötigste untersuchen, die Temperatur

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