Das Haus Am Potomac
empfand sie nur schlicht den
Wunsch, hineinzugehen, die Koffer aus dem Auto zu
holen, sich einen Kaffee zu machen und ein Sandwich zu
essen. Sie drehte den Schlüssel im Schloß, stieß die Tür
auf und fand den Lichtschalter.
Das Haus schien sehr sauber. Der glatte
Ziegelsteinboden im Foyer hatte eine zarte Patina; der
Kronleuchter strahlte. Ein zweiter Blick offenbarte ein
Verblassen der Farbe und Schleifspuren in der Nähe der
Wandleisten. Das Mobiliar müßte sie wohl zum größten
Teil ausrangieren oder wiederaufarbeiten lassen. Die guten
Möbel, die auf dem Boden des Hauses in Concord gelagert
gewesen waren, sollten morgen gebracht werden.
Sie wanderte langsam durchs Erdgeschoß. Zur Linken
war das große und freundliche, für Feierlichkeiten
geeignete Eßzimmer. Mit sechzehn war sie bei einem
Schulausflug nach Washington an diesem Haus
vorbeigegangen, hatte sich aber nicht vorstellen können,
wie geräumig die Zimmer darin waren. Von außen wirkte
das Haus ziemlich schmal.
Der Tisch war zerkratzt, das Sideboard schlimm
zugerichtet. So als wären heiße Schüsseln direkt auf das
Holz gestellt worden. Aber sie wußte, daß die schönen,
kunstvoll geschnitzten dunklen Eichenmöbel
Familieneigentum waren und daß es sich lohnen würde,
sie restaurieren zu lassen, ganz gleich, wie teuer das
würde.
Sie warf einen Blick in die Küche und in die Bibliothek,
setzte ihren Weg jedoch bewußt fort. In allen
Zeitungsberichten war der Grundriß des Hauses bis ins
kleinste Detail genau beschrieben gewesen. Das
Wohnzimmer war der letzte Raum auf der rechten Seite.
Sie spürte, wie es ihr die Kehle zuschnürte, als sie darauf
zuschritt. War sie wahnsinnig, das zu tun – hierher
zurückzukehren in dem Bemühen, sich wieder an etwas zu
erinnern, was am besten vergessen blieb?
Die Wohnzimmertür war geschlossen. Sie legte die
Hand auf den Türknauf und drehte ihn langsam herum.
Die Tür sprang auf. Sie suchte nach dem Lichtschalter an
der Wand und fand ihn. Es war ein schöner und großer
Raum mit einer hohen Decke, einem eleganten Sims über
dem weißen Ziegelsteinkamin und einer Fensternische.
Das Zimmer war leer bis auf einen Konzertflügel, ein
gewaltiges, wuchtiges Möbel aus dunklem Mahagoni in
dem Erker rechts vom Kamin.
Der Kamin.
Sie ging langsam darauf zu.
Ihre Arme und Beine begannen zu zittern. Auf ihrer
Stirn und auf ihren Handflächen bildeten sich
Schweißperlen. Sie konnte nicht schlucken. Das Zimmer
drehte sich um sie. Sie lief auf die Glastüren am Ende der
linken Wand zu, kämpfte mit dem Schloß, riß beide Türen
auf und stolperte auf die schneebedeckte Terrasse.
Die eiskalte Luft brannte ihr in den Lungen, als sie
keuchend, in kurzen nervösen Zügen Atem holte. Ein
heftiger Schauder veranlaßte sie, die Arme um ihren
Körper zu pressen. Sie begann zu schwanken und mußte
sich gegen die Hauswand lehnen, um nicht umzufallen.
Das Schwindelgefühl im Kopf bewirkte, daß auch die
dunklen Silhouetten der blattlosen Bäume zu schwanken
schienen.
Der Schnee war knöcheltief. Sie spürte, wie Feuchtigkeit
in ihre Stiefel drang, aber sie wollte nicht wieder ins Haus,
bevor das Schwindelgefühl nachließ. Minuten vergingen,
bis sie sich zutraute, ins Zimmer zurückzukehren. Sie
schloß und verriegelte die Türen sorgfältig, zauderte,
drehte sich dann bedächtig um und ging mit langsamen,
zögernden Schritten wieder zum Kamin. Zaghaft strich sie
mit der Hand über die rauhen, weiß getünchten
Ziegelsteine.
Schon lange kamen nun die Erinnerungen
bruchstückweise zurück, wie Wrackteile von einem Schiff.
Seit einem Jahr träumte sie ständig davon, daß sie wieder
Kind und wieder in diesem Haus war. Und jedesmal
wachte sie voller Todesangst auf, versuchte zu schreien,
konnte aber keinen Ton hervorbringen. Aber verbunden
mit dieser Angst war ein ständig vorhandenes
Verlustgefühl. Dieses Haus kannte die Wahrheit, dachte
sie.
Hier war es geschehen. Die schrecklichen Schlagzeilen,
zusammengetragen aus Zeitungsarchiven, schossen ihr
durch den Sinn. »KONGRESSABGEORDNETER DEAN
ADAMS AUS WISCONSIN TÖTET SEINE SCHÖNE
VORNEHME FRAU UND BEGEHT SELBSTMORD.
DREIJÄHRIGE TOCHTER KÄMPFT UMS
ÜBERLEBEN.«
Sie hatte die Berichte so oft gelesen, daß sie sie
auswendig kannte. »Senator John F. Kennedy meinte
bekümmert: ›Ich verstehe das einfach nicht. Dean war
einer meiner besten Freunde. Nichts an ihm hat je auf eine
unterdrückte Gewalttätigkeit
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