Das Haus Am Potomac
machte
sich umständlich daran, die Halskette aus ihrer Handtasche
zu fischen. »Dieses Ding hat einen Verschluß, mit dem
selbst Houdini nicht fertig geworden wäre. Meinst du, du
schaffst es?« Sie reichte ihm die Kette.
Er legte sie ihr um den Hals, und sie spürte, wie warm
seine Finger waren, als er die Kette zumachte. Seine
Finger verharrten noch einen kurzen Moment auf ihrer
Haut.
Dann sagte er: »Okay, das müßte eigentlich halten.
Zeigst du mir das Haus?«
»Es gibt noch nichts zu sehen. Der Möbelwagen kommt
erst morgen. In ein paar Tagen wird es hier ganz anders
aussehen. Außerdem verhungere ich fast.«
»Das kommt mir bekannt vor, verhungert warst du schon
immer.« Jetzt verrieten Sams Augen wirklich Belustigung.
»Wie ein kleines Ding wie du Schlemmereisbecher mit
Früchten und andere Leckereien in sich hineinstopfen
kann, ohne ein Gramm zuzunehmen …«
Sehr galant, Sam, dachte Pat, während sie ihren Mantel
aus dem Schrank nahm. Mich als ein kleines Ding mit
riesigem Appetit hinzustellen. »Wohin gehen wir?« fragte
sie.
»Ich habe im Maison Blanche einen Tisch reservieren
lassen. Das Essen ist dort immer sehr gut.«
Sie reichte ihm ihren Mantel. »Haben sie da auch
Kinderteller?« fragte sie honigsüß.
» Wie bitte? Oh, verstehe. Entschuldigung – ich dachte,
ich hätte dir damit ein Kompliment gemacht.«
Sam hatte hinter ihrem Wagen in der Einfahrt geparkt.
Als sie den Weg hinuntergingen, hatte er sie leicht
untergehakt. »Pat, schonst du wieder dein rechtes Bein?«
In seiner Stimme klang Besorgnis mit.
»Nur ein wenig. Ich bin noch steif von der Fahrt.«
»Korrigier mich, wenn ich mich täusche. Aber ist dies
nicht dein Haus?«
Sie hatte ihm damals, in jener Nacht, die sie zusammen
verbracht hatten, von ihren Eltern erzählt. Jetzt nickte sie
geistesabwesend. Jene Nacht im Ebb Tide Motel am Cape
Cod hatte sie immer und immer wieder neu durchlebt. Als
Anstoß reichte schon der Geruch des Meeres oder der
Anblick von zwei Menschen in einem Restaurant, die
händchenhaltend am Tisch saßen und sich mit dem
geheimnisvollen Lächeln von Verliebten ansahen. Und mit
jener einen Nacht war ihre Beziehung zu Ende gegangen.
Am nächsten Morgen hatten sie still und traurig beim
Frühstück gesessen und, bevor sie getrennt zu ihren
Flugzeugen aufbrachen, ausgiebig über alles diskutiert;
dabei waren sie gemeinsam zu dem Schluß gekommen,
daß sie kein Recht aufeinander hatten. Sams Frau, die
damals schon durch multiple Sklerose an den Rollstuhl
gefesselt war, hatte es nicht verdient, spüren zu müssen,
daß ihr Mann ein Verhältnis mit einer anderen Frau hatte.
»Und sie würde es spüren«, hatte Sam gesagt.
Pat rief sich gewaltsam in die Gegenwart zurück und
versuchte, das Thema zu wechseln. »Ist die Straße nicht
großartig? Sie erinnert mich an ein Gemälde auf einer
Weihnachtspostkarte.«
»Fast alle Straßen in Georgetown sehen um diese
Jahreszeit wie auf Weihnachtspostkarten aus«, erwiderte
Sam. »Es ist eine wahnwitzige Idee von dir, daß du
vergangene Dinge wieder ans Tageslicht befördern willst,
Pat. Laß es lieber.«
Sie waren beim Wagen angelangt. Er öffnete ihr die Tür,
und sie stieg ein. Sie wartete, bis er auf dem Fahrersitz
Platz genommen hatte und losfuhr, bevor sie antwortete:
»Das kann ich nicht. Da ist etwas, das mich ständig quält
und beunruhigt, Sam. Ich werde nicht eher Ruhe finden,
bis ich herausgefunden habe, was es ist.«
Sam verlangsamte die Fahrt wegen des Halteschildes am
Ende des Blocks. »Pat, bist du dir darüber im klaren, was
du vorhast? Du willst die Geschichte umschreiben; aber
denk an jene Nacht und sieh endlich ein, daß alles ein
schrecklicher Unfall war, daß dein Vater weder Absicht
hatte, dich zu verletzen, noch deine Mutter umzubringen.
Du machst dir sonst selbst alles nur noch schwerer.«
Sie blickte zu ihm hinüber und betrachtete sein Profil.
Seine Gesichtszüge, die eine Spur zu kräftig und
unregelmäßig waren, als daß er dem klassischen
Schönheitsideal entsprochen hätte, gefielen ihr über alles
Maßen. Sie mußte sich beherrschen, um nicht dem
spontanen Verlangen nachzugeben, zu ihm
hinüberzurutschen und die weiche Wolle seines Mantels
an ihrer Wange zu fühlen.
»Sam, warst du jemals seekrank?« fragte sie.
»Ein- oder zweimal. Normalerweise werde ich nicht so
leicht seekrank.«
»Bei mir ist es genauso. Aber ich weiß noch, wie ich
eines Sommers mit Veronica und Charles auf der
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