Das Haus der glücklichen Alten
den Tod nachdenken, das macht Angst. Nur zu, werden Sie nicht müde, es zu tun, ich denke genauso über das Leben nach, und wie Sie wissen, bin ich im Moment sehr in Sorge um das Leben meiner Frau. Einen Augenblick lang blickten wir forschend zum bleiernen Himmel, als wollten wir, dass es endlich loskrachte, aber nichts geschah. Der Mann brach das Schweigen und erklärte, er heiße ebenfalls Silva. Cristiano Mendes da Silva, und sogleich stellte ich mir uns beide als die zwei Seiten einer Medaille vor, ich, der António Jorge da Silva aus dem Busch, so wie es der Name sagt, und er der Silva aus Europa, mit geschwollener Brust, als hätte er das ganz allein hingekriegt. Er fuhr fort, wir alle in diesem Land kommen aus dem Busch, fast alle. Wir wachsen hier wie Gestrüpp, das ist es. Wir sind Wildwuchs, pflichtete ich ihm bei, wobei ich bereits wie jemand, der um eine Feuerpause bittet, gezwungen lächelte. Genau, stimmte er mir zu, Wildwuchs aus dem Busch, mit Menschengesicht, wir breiten uns im Gelände immer mehr aus und machen einen anständigen Eindruck, sind aber noch ungezähmt, ohne jede Erziehung. Ich verzog das Gesicht und antwortete nichts. Dann konnte ich mich nicht länger zurückhalten und widersprach, von wegen, natürlich sind wir Leute mit Erziehung. Und er, geradezu mit Tadel in der Stimme, ja, aber die Erziehung ist diesem Land übergestülpt worden, eingeprügelt, finden Sie nicht? Ich fand, dass dieser Silva ein Riesenhornochse war, mit seinem Gerede sog er mir alle Energie aus den Knochen, und er würde mich noch so in Rage bringen, dass ich meinen Vorsatz vergaß, ruhig zu bleiben. Er ließ nicht locker, wollte es unbedingt auf die Spitze treiben, wir sind aber gute Menschen, wir können glauben, was wir wollen, wir werden immer gute Menschen sein. Wir Portugiesen sind es wirklich, vergessen Sie das nie, Kollege Silva. In mir kann niemand mehr, wie früher einmal, einen Hinterwäldler sehen, wir sind Europäer, ich bin ein europäischer Silva, und es gibt viele, die es nicht sind, weil sie es noch nicht eingesehen haben oder sie haben es einfach noch nicht begriffen. Doch eins sage ich Ihnen, es ist unvermeidlich. Alle werden dahin kommen. Es wird Zeit. Es wird Zeit. Eines Tages sind wir Bürger einer einzigen Welt. Gleiche unter Gleichen, alle gleich und glücklich, und das nicht aus Pflichtgefühl. Wir sind dabei, uns über die Welt auszubreiten, wie es sich gehört, und irgendwann sind wir auch keine ungezähmten Wilden mehr und breiten uns nicht mehr kriechend aus, wie Gestrüpp, weil wir uns immer besser zu benehmen wissen, wir sind dann immer vielseitiger und haben Unmengen von Interessen, voll mit subtilsten Nuancen, wie die großen Männer der Geschichte. Eines Tages, verdammt, da sind wir sogar alle voll vernünftig.
Vielleicht lassen sich ja so auch die vielen Silvas erklären, sagte er lachend. Breiten sich kriechend aus wie Gestrüpp und sind dabei gute Menschen, die Erklärung für die Silvas alle. Und meine Frau?, fragte ich. Könnten Sie mir nicht helfen, etwas über meine Frau in Erfahrung zu bringen? Einen Moment lang war er wie benommen, als ob er gerade aus der Hypnose erwachte, und meinte dann, was kann ich schon machen. Mir wird man nichts sagen, ich bin bloß eine Hilfskraft. Von draußen war ein dumpfer Knall zu hören, als wäre die glanzlose Glasscheibe des Himmels zu guter Letzt zerbrochen und ließe nun den Regen durch. Es regnet gleich, sagte der europäische Silva. Ich schwieg und trat wieder ans Fenster, vom tiefen Bedürfnis beseelt, mich hinauszustürzen.
Plötzlich kam ein Arzt in den kleinen Raum und wandte sich an mich. Senhor António Silva? Ja, antwortete ich. Ihrer Frau geht es gut, wir warten nur noch ein paar Untersuchungsergebnisse ab, sie schläft jetzt. Wir haben sie ruhiggestellt, sie wird also nicht so bald aufwachen, und wir möchten sie gern über Nacht bei uns behalten. Ich lächelte wie ein kleines Kind, das sich verlaufen hat und dem man die Hand reicht. Kann ich auch hierbleiben?, fragte ich. Der Arzt, dessen Interesse an mir schon erloschen war, sagte, nein, nicht auf unserer Station, und verschwand. Der europäische Silva bemerkte dazu, für die ist alles immer ganz leicht, sie haben ein rein berufliches Interesse am Menschen. Für die ist das wie Blumengießen, immer schön gleichmäßig, ich sehe es ihnen genau an, sie hören überhaupt nicht zu. Es ist ihnen egal, was man ihnen sagt, ob der Patient stöhnt oder schreit, sie studieren
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