Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
Gefahr befandst. Und so schickte ich dir aus tiefstem Herzen eine Warnung.«
Wir hörten den Donner, der allmählich leiser wurde, wie ein brummiger Gast, der schimpfend eine Party verläßt. Ich sah durch die Glaswände von Desmonds Haus. Der Wüstensturm hatte nachgelassen, und die Morgenröte brach durch die Wolken. Draußen wurde es Tag. Wir hatten die dunkle Nacht überstanden.
Ein letztes Geheimnis mußte noch enthüllt werden.
»Großmutter«, sagte Charlotte unter Tränen, die ihre Augen in Smaragde verwandelten, »Mutter … ich habe vor deiner Abreise in die Karibik schreckliche Sachen zu dir gesagt. Es tut mir leid.«
Ich umarmte meine Tochter von neuem und antwortete: »Charlotte, ich habe nichts gehört.«
»Großmutter … Mutter …« Sie nahm meine Hand und ließ ihren Tränen freien Lauf. »Ich weiß nicht, was ich sagen, wie ich dich anreden soll. Nach deiner Beerdigung habe ich mich wochenlang in den Schlaf geweint. Meine Großmutter, die wie eine Mutter zu mir gewesen ist, war tot. Und nun lebt sie, und ich habe eine Mutter, die wie eine Großmutter zu mir war.«
»So oft lag es mir auf der Zunge, dich Tochter zu nennen. So viele Male hast du mich nach deiner Mutter gefragt, und ich mußte lügen. Jede Lüge lag wie ein Stein auf meinem Herzen, bis mein Herz selbst so schwer wie ein Stein wurde.«
Charlotte sah auf unsere verschlungenen Hände. Was dachte sie beim Anblick dieser alten Finger, die einst Arzneien gemischt, Babys auf die Welt gebracht, Gideon in Liebe berührt und ihre eigenen Tränen getrocknet hatten, als sie ein kleines Mädchen war? »Jahrelang«, begann sie leise, »habe ich uns auf verschiedenen Seiten eines gewaltigen Abgrunds gesehen. Ich stand an der einen Kante, du standest an der anderen. Es gab keine Brücke zwischen uns, keine Tochter und Mutter, die uns miteinander verband. Es fehlte das Mittelstück, und du schienst so unnahbar.« Sie schlug Richard Barclays Augen zu mir auf, und ich hörte die Stimmen vieler Charlotten – des kleinen Mädchens, des Teenagers, der jungen Frau, der reifen Erwachsenen –, lauter Töchter, die sich nach einer Mutter sehnten. »Warum hast du es mir nie erzählt?«
»Und wann hätte ich das tun sollen?« fragte ich zurück. »Als du sieben warst? Wie bringt man einem Kind bei, daß sein Vater der Mann von Tante Olivia ist? Oder als du ein Teenager warst und ich versuchte, dich Moral, Ehre und Selbstachtung zu lehren? Charlotte, es gibt viele Gründe, weshalb ich das Geheimnis bewahrt habe. Wie hätte ich es dir erzählen und allen anderen verschweigen können? Wärst du fähig gewesen, diese Last zu tragen, wenn die Barclays nichts gewußt hätten?« Ich löste meine Hände aus ihren und legte sie auf ihre Wangen. »Glaubst du, es war leicht für mich? Weißt du, was es für eine Frau bedeutet, ihre Babys im Arm zu halten und zu wissen, daß sie sie niemals Mutter nennen werden?«
»Aber wir wären uns näher gewesen«, protestierte sie. »So war da immer ein Abstand. Und du warst immer in der Fabrik.«
Nun war er endlich heraus, Charlottes größter Schmerz, und es wurde Zeit, mein letztes Geheimnis zu offenbaren.
»Es gibt noch etwas, das ich dir sagen muß, meine Tochter.«
Wir setzten uns wieder auf das Sofa, bei dem man die Knie zu weit anwinkeln mußte. Jonathan hörte uns schweigend zu. Ich sah meine Tochter an und erklärte: »Ich weiß, daß du böse auf die Fabrik warst, weil sie mich dir wegnahm. Aber ich mußte dorthin, Charlotte. Siehst du, als Reverend Peterson mir den Brief über meine Mutter schrieb, vergaß er eine wichtige Sache. Er teilte mir nicht mit, daß meine Mutter nicht in Singapur starb.«
Ich spürte nicht nur Charlottes Blick auf mir, sondern auch Jonathans. Er setzte sich auf meine andere Seite, ganz nah, und die beiden rahmten mich ein wie ein Rosenbogen.
»Als ich im Jahre 1957 den Brief bekam«, sagte ich leise und durchlebte noch einmal die bittersüße Erinnerung, »wußte ich, daß ich nach Singapur fahren und nach den Überlebenden meiner Familie forschen mußte. Natürlich war mein Großvater tot und mit ihm viele andere, eine Folge des Krieges. Aber ich fand eine Cousine, die mir eine phantastische Geschichte erzählte. Sie berichtete mir, nachdem mein Großvater, Mei-lings aristokratischer Vater, gestorben sei, habe meine Mutter beschlossen, nach Amerika zu reisen und mich zu suchen. Die Einwanderungsgesetze waren damals, 1953, immer noch sehr streng, aber man hatte die
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