Das Haus der Harmonie: Roman (German Edition)
Erster Teil
1
18 Uhr – Palm Springs, Kalifornien
Das grelle Klingeln des Telefons riß Charlotte aus tiefem Schlaf.
Während sie nach dem Hörer griff, sah sie auf ihren Nachttischwecker. Sechs Uhr abends. Sie hatte in den letzten Nächten nicht gut geschlafen und war darum vom Labor nach Hause gegangen, um ein kleines Nickerchen zu machen. Zu ihrem Erstaunen hatte sie den ganzen regnerischen Nachmittag verschlafen.
Desmond war am anderen Ende der Leitung, und das, was er sagte, schlug ein wie eine Bombe. »Charlotte, am besten kommst du sofort her. Es gibt einen neuen Fall.«
Sie war sofort hellwach. »Den dritten ?«
Im Zimmer war es dunkel. Sie knipste die Nachttischlampe an. »Wie schlimm ist es?«
»Wie bei den anderen. Das Opfer ist tot.«
Sie schloß die Augen. O Gott. »Ich bin schon unterwegs.«
»Charlie. Noch etwas. Es stehen Demonstranten vor dem Eingang.«
Sie schielte nach dem regennassen Fenster. »Bei dem Wetter?«
»Ein paar von ihnen halten das Chalk-Hill-Bild hoch.«
Charlottes Magen krampfte sich jäh zusammen. »O nein, Des«, flüsterte sie.
»Ich wollte dich nur warnen, damit du keinen Schock bekommst.« Sie legte den Hörer auf und rannte ins Badezimmer, als wollte sie vor Desmonds Schreckensnachricht fliehen. Sie hatten das Bild. Der Vorfall in der Forschungsstation Chalk Hill. Charlottes Alptraum, der sie Tag und Nacht verfolgte.
Als sie unter der Dusche stand, das Wasser so kalt, wie sie es eben noch aushalten konnte, den Strahl auf volle Kraft gedreht, verdrängte sie die Gedanken an Chalk Hill aus ihrem Kopf – das Bild war zurückgekehrt, um sie zu quälen, wie sie es immmer befürchtet hatte – und versuchte statt dessen, den seltsamen Traum zu analysieren, den sie während ihres Nickerchens gehabt hatte. Darin hatte ihre Großmutter gesagt: »Wir stammen von einer langen Reihe mutterloser Töchter ab. Und immer ist es so, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt in unserem Leben unsere Mütter uns aus dem Jenseits führen und leiten. Eines Tages, Charlotte, wirst du hören, wie die Stimme deiner Mutter zu dir spricht, so wie ich die Stimme der meinen einst gehört habe.«
»Aber woran erkenne ich sie?« hatte Charlotte im Traum gefragt.
»Meine Mutter starb, als ich ein Baby war. Ich habe ihre Stimme nie gehört.«
»Du wirst sie mit dem Herzen erkennen, nicht mit den Ohren.«
»Und wann wird das sein?«
»Wenn es an der Zeit ist.«
Es war nicht nur ein Traum gewesen, sondern auch eine Erinnerung. Charlottes Großmutter hatte diese prophetischen Worte vor über zehn Jahren gesprochen. Charlotte wartete noch immer auf die Stimme ihrer Mutter.
Sie zog sich hastig, jedoch sorgfältig an: cremefarbenes Wollkostüm, weiße Seidenbluse und unauffällige Pumps. Während sie das lange, schwarze Haar durch eine goldene Spange zog, schaute sie aus dem Fenster hinaus in das Wüstental, das sich, am Ende des Tages kaum noch sichtbar, vor ihr ausbreitete. Aus schwarzen Gewitterwolken prasselte ein dämonischer Regen. Im Westen krachten Blitze und erhellten mit kurzem, schwefelgelbem Auflodern den Horizont. Wenn Großmutter noch lebte, dachte Charlotte, könnte sie diese Zeichen deuten.
»Die Wolken«, würde sie sagen, »sind wie Kraniche, die schnell nach Hause fliegen. Ein gutes Omen. Es bedeutet, daß Glück naht.«
Charlotte hatte nie recht gelernt, die Zeichen zu deuten, obwohl ihre Großmutter sich redlich bemüht hatte, es ihr beizubringen. Vielleicht bin ich zu amerikanisch, dachte sie, so wie Großmutter zu chinesisch war.
Während sie die Augen mit der Handfläche vor einem grellen Blitz schützte, dachte sie: Palm Springs hat dreihundertdreiunddreißig Sonnentage im Jahr. Wie kann ein solches Unwetter ein gutes Omen sein?
Nein, es war ein böses Omen. Drei Todesfälle in einer Woche, alle durch Harmony-Produkte. Es konnte sich nur um Sabotage handeln wie schon im Tylenol-Fall, denn Harmony Biotec stellte seine Naturheilmittel unter strengster Qualitätskontrolle her. Aber wenn es Sabotage war, bestand dann ein Zusammenhang zwischen den drei Todesfällen, oder hatte man es nur auf eine der betroffenen Personen abgesehen und die beiden anderen waren unschuldige Opfer? Oder galten die Anschläge etwa dem Unternehmen?
Charlotte schaltete das Radio auf ihrem Nachttisch an, gerade rechtzeitig für die Abendnachrichten: Überschwemmungswarnung für die tiefergelegenen Wüstenregionen … Stromausfälle in Pomona, Manhattan Beach und Bereichen des
Weitere Kostenlose Bücher