- Das Haus der kalten Herzen
erzählt hatte, tot war? Und wenn es ihre Mutter war, warum konnte sie sich nicht an sie erinnern? Warum war sie sich nicht sicher?
Schon bald war die Frau nicht mehr in Sichtweite. Mercy nahm sich zusammen und folgte ihr die Treppen hinauf ins nächste Stockwerk bis in ein Schlafzimmer.
In dieser veränderten Ausgabe von Century, in diesem seltsamen Licht, war Mercy vielleicht ein Geist. Die Frau schaute geradewegs durch sie hindurch und benahm sich so entspannt wie jemand, der glaubt, ganz allein zu sein. Hier drinnen war das Licht nicht so grell, denn die Musselingardinen waren ein wenig vor die Fenster gezogen worden. Das Bett war groß und aus dunklem, schwerem Holz, geschnitzte Kränze in der Form von Eichenlaub und Eicheln krönten das Kopfende. Die Frau setzte sich an den Frisiertisch, auf dem eine Menge gläserner Tiegel, Bürsten und hübsche Schachteln standen. Sie durchsuchte die Schubladen, in denen sich Dutzende von Briefen stapelten. Nun wurde Mercy mutiger, sie trat näher heran, bis sie dicht hinter der Frau stand.
Die blätterte die Briefe durch, aber sie konnte nicht finden, was immer sie suchte. Mercy blieb bei ihr stehen, sah sich ihr Kleid genau an und die silberne Kette, die sie um den Hals trug. Es musste Thekla sein, ganz bestimmt. Mercy sehnte sich danach, mit ihr zu sprechen und ihre Stimme zu hören, aber mit einem Seufzer stand die Frau auf und ging wieder aus dem Zimmer und die Treppen hinunter. Mercy versuchte, ihr zu folgen, aber das Haus spielte ihr Streiche, die Korridore schienen davonzulaufen und sich von ihr zurückzuziehen. Sie konnte nicht Schritt halten.
Also kehrte Mercy zum Kinderzimmer zurück, wo zwei Mädchen am Tisch saßen. Sie schlüpfte in den Raum. Das dunkelhaarige Mädchen blickte auf, als sie die Tür hörte. Die beiden Mädchen tranken Tee, lasen und redeten. Bücher lagen aufgeschlagen auf dem Tisch. Die Teetassen waren mit blauen Rosen bemalt. Im kalten Kamin stand ein Gesteck aus Trockenblumen und Tannenzapfen, doch die Luft war immer noch warm – und es duftete. Das Kinderzimmerfenster stand weit offen und der Geruch nach Gras und frischen Blättern, das Aroma der Gartenblumen und der Duft der Rosen wehten herein. Sommer. Ein Sommer längst vergangener Zeit, weit, weit weg.
Die Sonne schmerzte trotzdem. Mercy entfernte sich vom Fenster und hockte sich auf den kleinen Schemel in der Ecke des Zimmers. Es war ein Kinderschemel, zu klein für sie. In ihrem Kinderzimmer gab es genau den gleichen, er war nur etwas wackliger. Als sie sich bewegte, schaute das dunkelhaarige Mädchen wieder auf, als ob sie eine Veränderung des Lichtes bemerkt hätte. Sie runzelte ihre Stirn. »Frierst du?«, fragte sie.
»Nein, nicht die Spur. Ehrlich gesagt ist mir ziemlich heiß«, sagte das blonde Mädchen und zerrte an seinem Kragen.
»Ich habe einen kalten Luftzug gespürt«, sagte das dunkelhaarige Mädchen. Mit einem überzeugenden kleinen Zittern schien es das unterstreichen zu wollen.
Mercy betrachtete die beiden fasziniert. Es waren Charity und sie selbst, im Alter von acht und zehn Jahren. Nur waren diese Mädchen rosig und gesund, die kleine Charity hatte runde, pummelige Arme. Die beiden plapperten und lachten. Mit einem seltsamen plötzlichen Schmerz ging Mercy auf, dass sie sich nicht mehr erinnern konnte, wann sie das letzte Mal gelacht hatte. Dem herrlich warmen Sonnenschein, der das Gold im Haar der kleinen Charity erstrahlen ließ, schenkten die Mädchen so wenig Beachtung. Wie sehr sie die beiden doch beneidete. Warum hatte man ihr das genommen? Früher, früher einmal hatte Mercy so gelebt, in diesem goldenen Licht und der Hitze.
Die Mädchen nahmen ihre Bücher wieder zur Hand und die kleine Charity ließ sorglos die Beine baumeln. Die kleine Mercy las ein Gedicht vor, das sie selbst geschrieben hatte. Es handelte von einer Flussnymphe, die sich in einen Dämon in einem schwarzen Felsen verliebte. Die kleine Charity lachte, dann las sie ihr eigenes Werk vor, in dem es um ein verzaubertes Kleid ging, das seine Trägerin zu einem Ball im Märchenland brachte, wo sie hundert Jahre tanzen musste, da eine Nacht im Märchenland einem Jahrhundert in ihrer eigenen Welt entsprach. Mercy konnte sehen, dass ihr jüngeres Selbst vom Gedicht ihrer Schwester angerührt war – und auch eifersüchtig.
»Es ist wunderschön«, sagte die kleine Mercy grimmig. »Wunderschön und traurig. Ich kann mir vorstellen, wie sie nach Hause kommt, die Schuhe zerfetzt, das Kleid
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