- Das Haus der kalten Herzen
Geschriebene keinen Sinn mehr. Die Zeilen wollten sich nicht zu Wörtern fügen. Vielleicht schützte der Bann sich selbst, dann könnte sie die Geschichte nicht lesen, bis sie selbst herausgefunden hatte, wie die Geschehnisse sich entwickelten.
Mercy nahm ihr eigenes rotes Buch zur Hand und legte es neben das ihres Vaters. Feder und Tinte standen rechts von ihr bereit, doch Mercy konnte sich nicht zum Schreiben überwinden. Aber sie hatte keine Zeit zu verlieren. Sie erinnerte sich, wie es am Ende des Sommertages gewesen war. Während sie mit Claudius geredet hatte, war sie in ihre eigene Zeit zurückgesaugt worden, ohne es sich zu wünschen – und ohne dass es eine Tür gebraucht hätte. Bald würde der Herbsttag enden und wahrscheinlich würde sie in den Sommertag zurückfallen oder gar nach Hause in den tiefen Winter. Und wenn sie gegen ihre Wünsche in ihre eigene Zeit zurückkäme, würde Trajan sie mit Sicherheit so gut wegschließen, dass sie niemals eine weitere Gelegenheit bekäme, diese Reise in die Vergangenheit zu vollenden. Sie hatte keine Zeit zu verlieren. Trotz dieses Gefühls der Dringlichkeit starrte Mercy weiterhin auf das Buch.
Der Albtraum der Ereignisse dieses Tages hielt ihren Kopf und ihr Herz fest im Griff. Das Jaulen der schwarzweiß getigerten Katze. Ihr weicher Körper, schlaff im Korb, als das Ka herausgerissen worden war. Der Anblick des durch den Raum torkelnden animierten Gebildes aus Stoff und Sägemehl. Claudius, dessen irres Gesicht voller Blut und Beulen war, und der tote Hecht, der in seinem Schaukasten zappelte. Dann auch noch die Puppe. Ja, die Engelspuppe und ihre unheilige, berückende Schönheit. Die Erinnerung brannte.
Es war alles zu viel. Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Konnte nicht denken. Ihre Hirnwindungen waren wie verstopft. Der Herzschlag dröhnte ihr in den Ohren. Sie war ganz allein und hatte niemanden, an den sie sich wenden konnte. Sie fühlte sich sehr klein vor einer Sache, die zu groß und zu schwierig für sie war.
Die Uhr schlug zur Viertelstunde. Nichts wie weg. Weiter zum nächsten Tag. Doch sie starrte immer noch auf das Buch.
Trajan hatte Recht gehabt.
Claudius war ein Monstrum. So ein Mann war völlig zu Recht in der Spirale vergangener Tage gefangen. Töricht wäre sie, wenn sie ihn befreien würde, selbst wenn sie damit ihr eigenes Leben und das ihrer Schwester wiedergewinnen könnte. Warum hatte sie ihrem Vater nicht vertraut? Vielleicht war ihre eigene dunkle Gefangenschaft ein Preis, der es wert war, bezahlt zu werden, um Claudius von der Welt fernzuhalten. Er hatte kein Gewissen. Er war zu allem fähig.
Es blieben noch zwei Tage. Mercy wusste nicht, ob sie ihre Reise durch die beunruhigende Vergangenheit der Vergas fortsetzen sollte. Vielleicht sollte sie nach Hause zurückkehren, das rote Buch abgeben und hoffen, dass Trajan in der Lage war, die Nähte zu schließen, die sie in sein Netz von Tagen gerissen hatte. Andererseits gab es immer noch Fragen, die ihr keine Ruhe ließen. Sie sehnte sich danach, die Wahrheit über ihre Mutter herauszufinden. Wie war Thekla in diese Geschichte verstrickt? War sie gestorben, wie Trajan es ihr erzählt hatte?
Wie war Claudius’ sorgfältiger und diabolischer Plan gescheitert? Und wie konnte sie sicher sein, dass es wirklich das endlose, ausweglose Leben von Charity, Trajan und ihr wert war, wenn nur Claudius gefangen gehalten wurde? Urteilte sie falsch über ihn? Er hatte aus Liebe gehandelt. Aus großer Liebe für Marietta. Mercy erinnerte sich an sein Gesicht, als er das Kleid gestreichelt hatte. Verrückt vor Liebe. Vielleicht war solche Liebe nur ein anderes Wort für Eigennutz und Besessenheit. Claudius hätte Marietta verlassen sollen, damit sie ein normales Leben genießen konnte. Oder … wenn er sie wirklich geliebt hätte, wäre er auch mit Freuden die Ehe mit einer Sterblichen eingegangen und hätte Marietta geliebt, auch wenn sie gealtert und gestorben wäre.
Es hatte keinen Zweck. Ganz gleich, wie oft sie die Fakten drehte und wendete, ganz gleich, wie sie die Informationen, die ihr vorlagen, durchdachte und abwägte, eine einfache Antwort kam nicht dabei heraus. Sie würde den Verlauf der Ereignisse der nächsten beiden Tage enthüllen müssen. Mit größerem Wissen ausgestattet, würde sie dann vielleicht eine kundige Schlussfolgerung ziehen können.
Mercy stand auf, nahm ihr rotes Buch zur Hand und zog Die genaue geografische Lage des Lermantas-Archipels zwischen den
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