Schwarzer Kuss Der Nacht
Kapitel 1
Die Fahrstuhlkabine zitterte, als sie langsam nach oben glitt. Mai Groves stellte sich vor, wie die dicken Kabel bis an ihre Belastungsgrenze gespannt wurden und eines nach dem anderen nachgaben. Wenn das letzte riss, würde die Kabine sechs Stockwerke tief in den Keller rauschen, wo sie unter der Wucht des Aufpralls wie eine leere Bierdose zerquetscht würde – und sämtliche Insassen starben.
Das Läuten ihres Handys unterbrach den schaurigen Tagtraum.
»Hallo?«
»Mai, hier ist Tom. Alles in Ordnung?«
Sie blickte sich in der leeren Kabine um. »Bisher ja, warum?«
»Wo bist du?«
»In einem Fahrstuhl – einem richtig alten, richtig winzigen Fahrstuhl.« Erst jetzt fiel ihr der besorgte Tonfall ihres Chefredakteurs auf. »Was ist denn los?«
»Du bist also nicht bei deinem Therapeuten?«
»Nein«, antwortete sie und gab sich keine Mühe, ihre Verärgerung ob der Frage zu verbergen. »Ich habe dir doch letzte Woche erzählt, dass ich nicht mehr zu ihm gehe. Ich bin geheilt. Ich sehe keine Dinge mehr, die nicht da sind«, fügte sie betont unbeschwert hinzu. Würde er ihr glauben, dass sie so normal wie jede x-beliebige Waldnymphe war?
Seit sie dem Hexenzirkel des Lichts, vier umwerfend gutaussehendenUnsterblichenkriegern und einer Schar sonstiger magischer Geschöpfe in der Schlacht gegen einen uralten Dämon geholfen hatte, plagten Mai Probleme. Sie litt unter Halluzinationen, die laut ihrem Therapeuten auf ein posttraumatisches Stresssyndrom zurückgingen. Mai glaubte nicht, dass sie bekloppt war, nur weil sie überall Dämonen zu sehen meinte. Nach ihrem beinahe apokalyptischen Erlebnis wusste sie schließlich, dass Dämonen aussahen wie ganz gewöhnliche Leute. Andererseits sprach die Tatsache, dass niemand sonst sie wahrnahm, schon ein bisschen gegen ihre These, dass mit ihr alles bestens wäre.
»Sie sind heute in die Praxis deines Therapeuten eingebrochen«, erzählte Tom. »Ich hatte Angst, dass du gerade bei ihm warst.«
»Wie bitte?! Ist irgendjemandem etwas passiert?« Als Therapeut konnte Ken Barbour eine echte Nervensäge sein, aber sie konnte sich vorstellen, dass er privat recht nett war.
»Ja. Dr. Barbour, nun … er wurde tot aufgefunden. Erschossen.«
Mais Herz setzte kurz aus. Im selben Moment hielt der Fahrstuhl an, und die Türen öffneten sich. Eine Sekunde lang stand Mai gelähmt vor Schreck da, dann zwang sie sich, ihre Beine zu bewegen. Wie automatisch ging sie den Flur entlang zu ihrer Wohnung. »Weiß man, wer es war?«
»Sie haben Verdächtige, dreißig an der Zahl, allesamt Patienten.«
Ihr lähmender Schock wich blanker Entrüstung. »Du willst hoffentlich nicht andeuten,
ich
hätte ihn umgebracht!«
»Nein, natürlich nicht, aber wir müssen bedenken, dass Dr. Barbours Patienten … gestört waren. Die Polizei fand überall Patientenakten verstreut, deshalb glauben sie, einer von ihnen könnte mit dem Mord zu tun haben.«
Mai fragte nicht einmal, wie Tom zu seinem Wissen kam, denn er hatte Kontakte bei der Polizei und bei allen Fernsehsendern. Außerdem würde er es ihr sowieso nicht verraten.
»Geht es dir gut?«, erkundigte Tom sich, als sie zu lange schwieg.
»Ja, ich bin bloß schockiert.«
»Ich weiß. Kannst du jemanden anrufen, der zu dir kommt?«
Mai behagte seine Andeutung nicht, sie wäre zu fragil, um allein mit dieser schrecklichen Nachricht fertig zu werden. »Tom, er war mein Therapeut, nicht mein Freund und auch nicht mein Liebhaber. Na klar bin ich traurig, wenn ich höre, dass er tot ist, aber ich brauche niemanden, der mir Händchen hält.«
Sie hörte Tom seufzen. »Ich sorge mich ja bloß um dich«, verteidigte er sich. »Und ich hätte meine Spitzenreporterin gern wieder.«
»Hast du mich deshalb gefeuert?«
»Mai, du weißt, dass ich dich nicht weiterbeschäftigen konnte, weil du nichts geschrieben hast.«
»Ja, ich weiß.« Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: »Apropos Schreiben: Ich arbeite gerade an einer neuen Story.«
»Schon wieder? Hältst du das für eine gute Idee nach dem, was im Übungszentrum los war?«
»Tom, ich bitte dich, das ist ewig her!«
»Es war letzte Woche, Mai.«
»Ich habe dir doch erzählt, dass ich nicht gehört habe, wie sie die Blitzfeuer-Demonstration angesagt haben. Als plötzlich der Blitz losging, war ich nicht vorbereitet, na ja, und … ich habe mich erschrocken.« Genau genommen hatte sie eine Riesenangst bekommen. Sofort fühlte sie sich wiederin die große Schlacht gegen den
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