Wind der Gezeiten - Roman
1
E lizabeth war von Dunkelheit umgeben. Der Himmel war schwarz, voller jagender Sturmwolken, die alles Licht ausgelöscht hatten.
» Mommy? « , fragte Johnny ängstlich.
» Sei still, mein Kleiner. Alles wird gut. Wir müssen nur Daddy finden, dann sind wir in Sicherheit. «
Sie hielt ihren Sohn fest an sich gedrückt, während sie weiterrannte. Um sie herum tobte der Sturm. Äste und Sand wirbelten durch die Luft, man konnte nicht die Hand vor Augen sehen. Der tobende Wind überlagerte alle Geräusche, doch Elizabeth wusste genau, dass ihr Verfolger dicht hinter ihr war, nur wenige Schritte trennten ihn noch von ihr. Böen peitschten ihr ins Gesicht, ihre Füße verfingen sich in Treibgut, das der Sturm über das Land getrieben hatte.
» Bleib stehen « , hörte sie ihn durch den Sturmwind rufen. » Hab keine Angst vor mir! «
Doch sie wusste, dass er sie und Johnny töten würde, wenn sie innehielt.
» Elizabeth « , schrie Harold. » Lauf nicht weg. Ich liebe dich doch! «
Natürlich log er. Jemand, der so abgrundtief böse war, konnte nicht lieben. All seine Gefühle waren nur Zerrbilder des Hasses, mit dem er jeden vernichtete, der sich gegen ihn stellte. Sie fuhr herum und sah sein Messer funkeln. Abwehrend hob sie die Hand und schrie auf.
Im nächsten Augenblick war Duncan bei ihr. Er hielt sie umfangen und wiegte sie in seinen Armen. » Schsch. Ist ja schon gut, Liebes. Es war nur ein Traum. «
Mit einem Aufschluchzen wurde Elizabeth endgültig wach. Sie schmiegte sich an Duncans warmen Körper und umklammerte ihn. » Er war wieder da. Er wollte Johnny und mich töten. «
» Er verrottet in seinem Grab, Lizzie. Er kann niemandem mehr was tun. «
Sie war selbst dabei gewesen, als Harold Dunmore in der Nacht des Hurrikans zur Hölle gefahren war, doch die Ereignisse schienen immer noch allgegenwärtig. Sogar nach seinem Tod gelang es ihrem einstigen Schwiegervater, sich in ihre Träume zu drängen und ihr Angst einzujagen. Mit tiefen Atemzügen versuchte sie, sich zu beruhigen. Duncans Nähe half ihr dabei. Sie spürte, wie sie sich allmählich entspannte.
» Es wird Zeit, dass wir von hier wegkommen « , murmelte sie, das Gesicht an seiner Schulter. » Wir sind sowieso schon viel zu lange hiergeblieben. Ich hasse dieses Haus. Es ist verflucht. «
» Es ist nur ein Haus. «
» Es ist sein Haus. «
» Er ist tot. «
» Trotzdem. Es nimmt mir die Luft zum Atmen. «
» Nur noch drei Tage, Lizzie. Die gehen schnell vorbei. «
Duncan hatte die Beine aus dem Bett geschwungen, das Moskitonetz zur Seite geschoben und eine Kerze angezündet. Das flackernde Licht zeichnete die Umrisse seiner Schultern nach, als er sich zu Elizabeth umdrehte. » Geht es wieder? «
Elizabeth nickte wortlos, in dem Wissen, dass es andere Nächte mit weiteren Albträumen geben würde. Doch hier und jetzt war sie sicher, mit Duncan an ihrer Seite. Ihr Sohn schlief geborgen im Nebenraum, und wenn der Himmel ihnen gnädig war, würden sie bald noch ein Kind in den Armen halten.
Duncan zog sie an sich und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar. » Alles wird gut. «
Er sagte das mit solcher Entschiedenheit, dass auch sie daran glaubte. Gemeinsam lauschten sie dem Wind und dem Prasseln des nächtlichen Regens. Die hölzernen Läden klapperten im Luftzug, und die Tropfen schlugen monoton gegen die Querstreben vor den Fenstern.
» Es wird bald Tag. « Duncan strich mit der Hand über ihren gerundeten Leib und berührte eine ihrer vollen Brüste. Seine Augen funkelten im Kerzenschein, und sein Lächeln bekam etwas Verwegenes. » Eigentlich lohnt es sich kaum noch, wieder einzuschlafen. Was meinst du? «
Sie murmelte eine Zustimmung und spürte, wie sich seine Erregung auf sie übertrug, als er sie sanft, aber bestimmt in die Kissen zurückdrängte und sie küsste. Er hatte schon immer gewusst, wie er sie auf andere Gedanken bringen konnte.
2
E lizabeth zügelte die Stute auf dem Hügel und blickte über die versteckte kleine Bucht. Pearl schnaubte leise und bewegte witternd den Kopf. In der Nähe raschelte ein Tier im Unterholz. Elizabeth tätschelte der Stute beruhigend den Hals.
Das Meer war in kupferfarbenes Licht getaucht, die Sonne stand bereits tief. In diesen tropischen Breiten kam die Dunkelheit schnell. Ein kurzes, feuriges Farbenspiel, von Orange über Rot bis hin zu dunklem Purpur, das die ganze Welt zum Leuchten brachte– und dann war plötzlich alles Licht verschwunden, bis auf ein samtiges, tiefviolettes
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