Die Schattenseherin: Roman (German Edition)
Prolog
Sie sieht auf den Abgrund vor sich. Er ist tief, und sein Boden ist nicht zu sehen. Dort breitet sich nur Schwärze aus, und der Anblick macht ihr Angst. Wind steigt auf, fährt mit dünnen Fingern in ihr Haar und über ihr Gesicht. Er trägt den Duft von Asche mit sich.
»Du musst nicht gehen«, sagt er. Sie weiß nicht, wie lange er schon hinter ihr steht und sie beobachtet. Er hat das immer getan, und es hat sie nie gestört. Es stört sie auch jetzt nicht. Es gibt ihm etwas, was sie ihm sonst nicht geben kann. Unerwiderte Liebe ist schmerzhaft – auch für einen selbst, wenn man den Liebenden von Herzen gern hat.
»Ich muss«, widerspricht sie nur und sieht weiter auf den Abgrund. Der Wind hat sich gelegt, aber sie hört ein Klagen. Es kommt aus der dunklen Tiefe. Der dünne Ton lässt sie schaudern.
Seine Hand legt sich auf ihren Arm, und sie findet die Kraft, den Kopf zu heben und ihn anzusehen. Es tut ihr weh, ihn so leiden zu sehen, aber das Leid eines Einzelnen wiegt nicht das Leid vieler auf. »Ich muss«, wiederholt sie leise und muss sich zwingen, ihn weiter anzusehen. Sein Anblick berührt sie und macht ihr die Tragweite ihres Entschlusses doppelt schmerzhaft bewusst. »Ich muss es für sie alle tun. Und für ihn.«
»Du lässt zu viel zurück und du gewinnst nichts. Was erhoffst du dir davon? Sie werden weiter gejagt werden.«
»Diesmal haben sie aber eine Chance, sich zu wehren. Sie müssen nicht weiter in Angst existieren, sie können leben. Die Ordnung wird nicht gespalten.«
Sie atmet tief durch und dreht sich ganz zu ihm um. Sein Blick ist so ernst, er wirkt so besorgt um sie. Ob er es jemals wirklich verstehen wird? »Es ist gut, dass du hier bist. Willst du mir einen letzten Gefallen tun?«
Er sieht ihr in die Augen, und sie erkennt, dass er weiß, was sie von ihm will. Für einen Moment hat sie Angst, dass er ablehnen wird und sie es selbst tun muss, aber schließlich nickt er.
Er tritt an ihre Seite und streicht ihr das Haar über die Schulter, bis es weich über ihren nackten Oberkörper fällt. Ein Fauchen ertönt, das vertraute Geräusch von Flammen, und sie wappnet sich. Aber als er beginnt, die Flammen durch ihre Flügel zu treiben, ist es zu viel. Sie versucht, nicht zu schreien, um es ihm nicht schwerer zu machen, aber als die Flammen sich tiefer fressen, Knochen, Haut und Sehnen erfassen, erträgt sie es nicht mehr und schreit.
Er gibt keinen Laut von sich, doch während ihre Flügel verbrennen, hält er ihre Hand, und sie ist unendlich dankbar dafür. Der Druck lässt nicht nach, bis Federn und Knochen zu Asche verbrannt sind und nur noch der verbrannte Gestank in der Luft und die Asche auf dem Boden davon zeugen, dass hier einmal ein Engel stand. Jetzt ist sie etwas anderes, und es ist an ihr, herauszufinden, was.
Sie hebt seine Hand an ihre Lippen und küsst den Handrücken. »Ich danke dir, mein Freund«, sagt sie. »Lebe wohl.«
Er will etwas sagen, aber sie schüttelt den Kopf und lässt seine Hand los. Auf diesem letzten Schritt darf er sie nicht begleiten; auch wenn sie es sich wünscht, kann sie es ihm nicht antun. Von diesen vielen ist er der Einzige, dem sie es nicht antun kann. Ohne einen Blick zurück geht sie auf den Abgrund zu. Sie sieht die Schwärze vor sich. Diese zieht sie regelrecht an, wie ein Sog, und das Klagen wird lauter, es hallt in ihren Ohren wider. Alles in ihr brüllt danach, wieder umzukehren. Sie hat Angst, sie will weg, aber es war nie ihre Art, wegzulaufen. Sie stellte sich den Dingen.
Ihre Schritte werden schneller, und als sie den Rand der klaffenden Dunkelheit sieht, stößt sie sich kraftvoll ab, fliegt für einen Moment frei über allem, als würde sie noch immer von Flügeln getragen, doch da sind keine Flügel mehr, dort ist nichts mehr, und sie nähert sich dem höchsten Punkt ihrer Flugbahn, bis sie schließlich …
… fällt.
Erstes Kapitel
Gebrochene Herzen
Auf der Princes Street, Edinburghs beliebtester Einkaufsstraße und Hauptschlagader der Stadt, hatte der Samstagabend endgültig begonnen. Schwarze Taxen fuhren an die Bordsteine heran, entließen feierhungrige Nachtschwärmer und nahmen neue Fahrgäste auf. Rote Doppeldeckerbusse mit schreienden Reklamen an der Seite fädelten sich in den dichten Verkehr und reihten sich in die Schlange der Autos ein.
Cale blieb an einem der vielen Geschäfte stehen, in dem sich die neuesten und teuersten Möglichkeiten, Geld loszuwerden, darboten. Lexa, seine Chefin, hatte ihn
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