Das Haus der kalten Herzen
so verbraucht und verblasst und ich habe doch nur eine Handvoll Jahre wirklich gelebt.
Sie streckte die Hand aus und schrieb ihren Namen in den Staub. Mercy Galliena Verga. Und die Jahreszahl – 1890. Eine Spinne rutschte an einem Seidenfaden hinunter zu dem Netz, das sie zwischen Spiegel und Tischplatte gesponnen hatte. Mercy schaute in den Spiegel, musterte ihr Gesicht genau und versuchte, sich vorzustellen, wie sie wohl aussehen würde, wenn ihr Kleid nicht so alt und schmutzig wäre. Wie würden die Leute sie jetzt sehen, wenn sie könnten? Normale Leute, die im Licht lebten, außerhalb des geheimen Hauses? Sie kam sich sehr klein und müde vor, wie ein Faden, der beim Langziehen dünn geworden und jetzt kurz vor dem Zerreißen war.
Sorgfältig legte Mercy die Schachtel und die Haarbürste zurück auf ihre Abdrücke im Staub. Sie ging zum Kleiderschrank und drehte den winzigen Schlüssel im Schloss. Eine Reihe von Kleidern hing darin, rot, blau, golden, einige bestickt und geschmückt mit Edelsteinen – wie Prinzessinnen, die auf einen Ball warteten. Hundert Jahre hatten sie unter einem Zauberbann verharrt, diese müden, ergrauenden Prinzessinnen, und ihr Schicksal war es vielleicht, ewig zu warten. Der Zahn der Zeit hatte an ihnen genagt. Als Mercy den Bügel mit dem ersten Kleid herauszog, fiel der Ärmel ab. Mottenlarven hatten die Seide zerfressen. Sie seufzte und hängte es vorsichtig zurück zu seinen Schwestern.
»Das ist nicht gut«, sagte sie sich. »So kann es nicht weitergehen.« Mit zitternden Fingern schloss sie den Schrank wieder ab. Sie würde nicht zulassen, dass es so weiterging. Ein rebellisches Gefühl flammte in ihrer Brust auf, Wut rasselte in einer fest verschlossenen Schachtel.
Charity saß am Tisch im alten Kinderzimmer. Sie spielte mit einem angelaufenen silbernen Eierbecher. Mercy setzte sich ans andere Ende des Tisches.
Im Kinderzimmer war der Verfall nicht so schlimm wie in ihrem eigenen Zimmer. Ein wenig staubig und unordentlich war es hier, die Möbel wiesen Gebrauchsspuren auf, doch der Raum wirkte bewohnt. Im Kamin brannte ein Feuer.
»Mehr kannst du nicht essen?«, sagte Mercy.
Charity zuckte die Achseln.
»Na, du hast ja noch gar nichts gegessen.« Ihr weinroter Morgenmantel war voller Flecken, ausgefranst und geflickt, wie Mercys Kleid.
»Ist doch komisch, wie leicht man immer wieder in dasselbe Gespräch fällt, nicht?«, sagte Mercy.
»Ja«, sagte Charity. »Trotzdem scheint sich alles zu ändern. Der Tag ist nicht mehr derselbe, stimmt’s?«
Mercy beugte sich vor und flüsterte. »Ich bin wieder da gewesen, an diesem Ort in der Vergangenheit. Jetzt weiß ich, was ich tun muss. Ich kenne den Namen von dem Geist im Teich.«
»Wer ist sie?«
»Marietta«, flüsterte Mercy. »Claudius’ Frau. Und das kleine Geistermädchen in meinem Korridor ist ihre Schwester, meine beste Freundin Chloe.«
Sie hatte keine Zeit, noch weiterzusprechen, weil Aurelia mit ihrem Tablett mit Toast und den Tellern mit den blauen Rosen hereinkam.
Nach dem Essen war immer noch keine Zeit zum Reden. Galatea kam zu ihnen ins Kinderzimmer. Sie begannen mit den lateinischen Verben, aber Trajan schaute unerwartet vorbei und bat Mercy, einen Spaziergang mit ihm zu machen. Sogar Galatea war ganz durcheinander.
Aurelia holte Mercys Mütze und Mantel. Trajan sah jetzt anders aus. Er hatte sich gewaschen und die Kleider gewechselt. Nervös und voller Schuldgefühle versuchte Mercy, seine Stimmung zu ergründen. Tags zuvor hatte er ihr die Hand hingestreckt. Und sie hatte ihn verraten.
Er schien eher müde als wütend zu sein. Sie gingen über die Brennereiwiese. Trajan zeigte auf das glitzernd bereifte Gras und die aufgehende Venus, die wie ein dicker grüner Kohlkopf am Himmel hing. Während sie zum Teich hinuntergingen, blieb Mercy zuerst ein wenig zurück, denn sie fürchtete sich vor dem, was sie dort vielleicht sehen könnten. Aber Trajan winkte sie an seine Seite. Das Eis war weiß unter der Reifschicht.
Sie starrten auf den Teich. Trajan brütete vor sich hin. Mercy wurde es kalt. Sie rieb die behandschuhten Hände aneinander. Ihre Wangen kribbelten.
»Du hast ihn wiedergesehen«, sagte er. »Du hast mir nicht gehorcht.«
»Gesehen? Wen denn? Ich habe niemanden gesehen«, sagte sie schnell.
»Mercy, lüg mich nicht an.«
Mercy wusste nicht, was sie sagen sollte, und sie wusste nicht, wem sie trauen und was sie glauben sollte. Sie liebte ihren Vater, aber sie erinnerte sich an den
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