Das Haus der verlorenen Herzen
ihrem Feldherrn entgegensah. Zum Angriff war alles angetreten. Nur hatte man diesesmal zwei nebeneinanderliegende OPs in Bereitschaft. In dem einen lag unter einem Sauerstoffzelt, verbunden durch ein Gewirr mit Schläuchen zu lebenserhaltenden Fusionen und Herzimpulsmaschinen, der bleiche Arrigo Melata mit seinem Herzstich, im anderen OP, ebenfalls an einen künstlichen Blutkreislauf angeschlossen, aber durch seinen Hirnschuß schon klinisch tot, lag der junge Leone Bisenti.
Volkmar traf im Vorbereitungsraum auf Dr. Nardo und sein Team Nummer eins. Team Nummer zwei stand einsatzbereit bei dem Kopfschuß. Um Volkmar zu beruhigen, hingen von beiden Verletzten die Röntgenplatten am Lichtkasten: eine breite Herzwunde bei dem einen, eine Hirnzertrümmerung bei dem anderen. Nach den allgemeinen Regeln der Medizin brauchte man gar nicht die Hände und Arme zu seifen und die Gummihandschuhe überzustreifen. Zwei klassische Todesfälle, für die eigentlich nur noch die Staatsanwaltschaft zuständig war.
»Na?« fragte Dr. Soriano, der in seinem Nebenzimmer zurückgeblieben war und alles wieder über das Fernsehauge beobachtete. »Was sagen Sie dazu, Enrico?«
»Holen Sie die Polizei!«
»Sie Witzbold! Was kann Polizei bei einer Vendetta erreichen?!«
Dr. Volkmar antwortete nicht mehr. Er ging hinüber zum OP II und betrachtete im EEG und einem ganz modernen elektronischen Hirnstrommeßgerät den klinischen Tod des jungen Bisenti. Die Hirntätigkeit war eingestellt, die dünnen Striche der Schreiber zeigten keine Zacken mehr, nur noch eine zitternde, gerade Linie, und zitternd nur deshalb, weil der Blutkreislauf künstlich durch den Körper gepumpt wurde. Das wiederum bewies der Oszillograph: Das junge Herz des Mannes schlug, zwar nicht regelmäßig, sehr unruhig, aber es schlug und schien vollkommen gesund. Bevor die Hirnströme aussetzten, hatte man sogar ein EKG gemacht – Dr. Nardo hatte mit perfekter Perfidie gearbeitet – und bewies nun Dr. Volkmar, daß das junge Herz organisch völlig intakt war. Ein unverbrauchtes, fünfundzwanzigjähriges Herz. Das Herz eines kräftigen Bauernburschen, der noch vor ein paar Stunden sein Heimatdorf Calascibetta verlassen hatte, in der großen Hoffnung, in Catania, in einer Fischfabrik, mehr Lire zu verdienen, um sich, seine Mama, seine Nonna, drei kleinere Geschwister und einen Onkel zu ernähren. Der ganze Clan der Bisentis hatte Leone vor seinem Weggang gesegnet. Das vergoldete Medaillon auf seiner Brust mit der bunt gemalten Madonna hatte ihn nicht schützen können: Gallezzo, der ›Vollstrecker‹, hatte ihm eine Kugel so geschickt in den Kopf geschossen, daß er noch so lange lebte, um Dr. Nardo zu seinem EKG kommen zu lassen.
»Die Laborbefunde?« fragte Dr. Volkmar.
Dr. Nardo sah ihn erstaunt an. »Wozu?«
»Sind Sie ein Arzt?« schrie Volkmar.
Er verließ den OP II und betrat durch die automatischen Türen den OP I. Er beachtete den fast ausgebluteten Melata mit seinem Herzstich und seiner laufenden Bluttransfusion gar nicht, sondern blickte in das Fernsehauge inmitten der großen runden OP-Lampe.
»Soriano«, sagte Volkmar laut, »ich diagnostiziere, daß beide Verletzte nicht mehr medizinisch zu behandeln sind! Man soll die Apparaturen abstellen; sie haben keinerlei Sinn!«
Sorianos Stimme tönte aus dem Lautsprecher: »Es ist gut, Enrico, daß Sie das auch feststellen! Wenn Sie jetzt anfangen, arbeiten Sie an Toten. Das widerspricht doch nicht Ihrer Moral?! Was an den beiden Menschen lebt, geht nur durch Schläuche. Also beginnen Sie! Sie haben vor sich ein zerstörtes und ein gesundes Herz. Beide Menschen werden so oder so sterben, stimmt es? Aber Sie haben als einziger und erster Arzt der Welt die Möglichkeit, ein lebendes Menschenherz zu transplantieren. Einen Muskel. Einen Motor. Sie sind ein ärztlicher Mechaniker, der einen Motor austauscht!«
»Sie sind ein Satan!« sagte Dr. Volkmar erschüttert. »Ich rühre mich nicht.«
»Dann wird Dr. Nardo es machen.«
»So wie bei den Schimpansen?«
»Ja.«
»Da waren grobe technische Fehler …«
»Machen Sie es besser, Enrico!«
»Nein!«
»Dr. Nardo, fangen Sie an!« Sorianos Stimme klang hart und kalt. »Ohne Experimente kein Fortschritt!«
Dr. Volkmar blieb sitzen, lehnte den Kopf weit zurück und schloß die Augen. Er hörte, wie im OP I die Arbeit begann, und er wußte, daß nicht nur das fürchterlichste Experiment der Medizingeschichte begonnen hatte, sondern auch, daß Dr. Nardo dieser
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